“Landschaften”

Created for DBZ - Deutsche Bauzeitschrift in 2003

Kategorie

  1. Architekturjournalismus

Werkstattbericht West 8, Rotterdam

Mit einer gelungenen Synthese aus experimenteller Radikalität und ökologischer Sensibilität verwischt das Rotterdamer Planungsbüro West 8 um Adriaan Geuze die Grenzen zwischen Landschaftsarchitektur, Städtebau und Architektur.

Die niederländische Landschaft ist in weiten Teilen eine Erfindung ihrer Bewohner. In jahrhundertelangem Kampf trotzten sie den Naturgewalten des Meeres systematisch nutzbares Land ab. Dieser eher rational-technologisch als romantisch bestimmte Umgang mit der Natur prägt seit jeher auch die niederländische Landschaftsarchitektur, zu deren renommiertesten Vertretern gegenwärtig das in einem ehemaligen Lagergebäude auf dem Rotterdamer Kop van Zuid ansässige Planungsbüro West 8 zählt. Das Wissen, dass weite Teile der heutigen Niederlande künstlich sind, erlaubt dem interdisziplinär mit Landschaftsarchitekten, Architekten und Designern besetzten Büro die Freiheit zur Planung ironischer, bisweilen surreal anmutender Räume, die ein spielerisch-experimentelles Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Ökologie, Städtebau und Mensch schaffen und neugierig machen, diese Orte zu entdecken.

Das nach der in Rotterdam vorherrschenden Windstärke und -richtung West 8 benannte und inzwischen mit rund 45 Mitarbeitern besetzte Planungsbüro wurde 1987 durch die beiden Landschaftsarchitekten Adriaan Geuze und Paul van Beek (inzwischen wieder ausgestiegen) gegründet. Eines der ersten Projekte war die landschaftliche Aufwertung einer künstlichen Insel in der südniederländischen Provinz Zeeland (1990). Lange Zeit war die Region ein Archipel kleiner Inseln, die weitgehend durch den Gezeitenwechsel bestimmt wurden. Nach der verheerenden Flutkatastrophe von 1953, bei der fast 2.000 Menschen umkamen, wurden neue Dämme und Deiche errichtet und die Küstenlinie damit um 700 Kilometer verkürzt. Als Ergebnis entstand eine neue, typisch niederländische Landschaft mit künstlichen Stauseen, Dämmen, Stränden, neuen Siedlungen und Industriezonen.

Gezeitenbewegungen finden sich heute einzig noch im Gebiet der Oostschelder. Um die dort ansässige Muschelindustrie zu erhalten, wurde der Nordsee hier “lediglich” eine rund acht Kilometer lange Sturmschleuse entgegen gestellt. Auf dem angrenzenden ehemaligen Bauarbeiter-Eiland, dem heutigen Freizeitpark “Neeltje Jans”, verwandelte West 8 die künstlichen Sandbänke in riesige, flach ansteigende Plateaus, so dass sich bei der Autofahrt über die N 57 von einem 10 Meter erhöhten Level aus ganz unverhofft traumhafte Ausblicke aufs Meer eröffnen. Gleichzeitig wurden die Plateaus mit riesigen Mengen schwarzer Mies- und weißer Herzmuscheln bevölkert – eine Strategie, “durch die sich hier gleichzeitig auch schwarze und weiße Vögel niedergelassen haben, so dass sich das Areal schließlich zu einer Art lebendigem Zen-Garten entwickeln konnte”, wie Adriaan Geuze erklärt. Der allgegenwärtige Rhythmus von schwarzen und weißen Muscheln fasziniert vor allem im nächtlichen Scheinwerferlicht – “ein wunderschönes Beispiel für das Verhältnis zwischen der Ökologie des Deltas und der technologischen Mobilität des Autofahrers.”

Ein ganz anderer Kontext bot sich den Planern bei der Außenraumplanung für den Flughafen Amsterdam Schiphol (1994). Um dem explosivem Wachstum des Terminals zu begegnen, ließ West 8 das Gelände acht Jahre lang jährlich mit jeweils 125.000 Birken bepflanzen. Dieser schnell wachsende Wald übersiedelt inzwischen nicht nur sämtliche Brachflächen, sondern schafft durch seine homogene botanische Textur gleichzeitig eine übergreifende Identität innerhalb der unübersichtlichen Infrastruktur. Zwei weitere Elemente der Planung waren die Platzierung großer Kübel mit einheimischen Saisonblumen an sämtlichen Eingängen sowie die Gestaltung mehrerer Patios mit stilllebenartigen Gärten.

Ähnlich belebt ist auch der mitten in der Rotterdamer Innenstadt gelegene, von Geschäften, Stadttheater, Konzerthalle und einem Omniplex-Kino umgebene Schouwburgplein. West 8 inszenierte den bewusst karg gehaltenen, mit Epoxidharz, Holz und Stahlpaneelen bedeckten Platz als gigantische städtische Bühne, auf dem vier bewegliche, jeweils 35 Meter hohe hydraulische Lichtmasten jede Stunde automatisch ihre Gestalt wechseln (1996). Der Entwurf nimmt damit nicht nur Bezug auf die Kräne im Rotterdamer Hafen, sondern bietet gleichzeitig die Möglichkeit, mithilfe einer Fernsteuerung die Position der Lichter zu ändern, so dass der Raum “Anonymität in Exhibitionismus und die Zuschauer in Schauspieler verwandelt”, wie Adriaan Geuze erklärt. Zwei weitere dynamische Elemente sind die drei jeweils 15 Meter hoch aufsteigenden Ventilationstürme der unterirdischen Parkgarage, die durch LED Displays eine gemeinsame digitale Uhr formen, und eine intelligent inszenierte Beleuchtung durch weiß, grün und schwarz fluoreszierendes Licht, durch das sich der Platz am Abend in einen hell strahlenden Sternenhimmel verwandelt.

Fast zeitgleich wurde West 8 mit der städtebaulichen Planung zur großflächigen Umwandlung zweier Docks in den ehemaligen Amsterdamer Osthäfen beauftragt (1996-2000) – ein Erfolg, der nachdrücklich den Einfluss des Planungsbüros auf die gegenwärtige niederländische Architekturszene unterstreicht. Auf den lang gestreckten Halbinseln Entrepot-West, KNSM, Java, Borneo und Sporenburg, wo früher die Ware aus den ehemaligen Kolonien gelöscht wurden, wohnen heute mehr als 15.000 Menschen in rund 6.000 Häusern und Wohnungen. Die beiden zuletzt anhand des Masterplans von West 8 bebauten Docks Borneo und Sporenburg wurden dabei durch ein schier endloses Meer von schmalen, meist dreigeschossigen und dabei bis zu 15 Meter tiefen Reihen-Einfamilienhäusern geflutet, die anders als die eher großflächige Bebauung auf den anderen drei Molen eher den Wunsch nach kleinmaßstäblichem Wohnen berücksichtigen. Anders als der traditionelle Typ des niederländischen Kanalhauses zeichnen sich die architektonisch überaus variabel gestalteten und meist mit Patios oder Dachgärten ausgestatteten Wohneinheiten vor allem durch ihre starke Orientierung nach innen aus.

Um den strengen Rhythmus und die spürbare Dichte aufzulockern – und um die verlangten 100 Wohneinheiten pro Hektar zu erreichen –, stellten die Planer zusätzlich drei Superblocks mit bis zu 214 Wohneinheiten in die weite Häuserlandschaft. Einer der drei “Meteoriten” ist das durch De Architekten Cie. aus Amsterdam geplante Wohngebäude “The Whale”, das mit seiner kantigen Form und seiner schrill anmutenden Haut aus Zinkschuppen unübersehbar aus dem dunklen Backstein-Häusermeer hervor ragt. Der im Innenhof durch West 8 gestaltete “Sphinxgarten” reflektiert die funkelnden Fassaden des Bauwerks durch eine Installation aus vier jeweils fünf Meter hohen handgearbeiteten Vasen aus Zink, die auf einem Untergrund aus Schieferplatten aufgestellt wurden. Der übrige Teil des surreal anmutenden und nachts orange-gelb beleuchteten Gartens wurde mit bläulichen Gräsern, geschnittenen Hecken und acht großen Gingkobäumen gestaltet.

Mindestens ebenso spannend wie der Innenhof selbst präsentiert sich auch die Aussicht in Richtung Süden, wo der Blick durch den mit ausgestanzten Blattformen gestalteten Außenzaun des Sphinxgartens hindurch auf die gegenüber liegende Mole Borneo trifft. Als Verbindung zwischen beiden Halbinseln entwarf West 8 zwei dunkelrot lackierte und nach dem Vorbild eines riesigen Vogels geformte Fußgängerbrücken aus Stahl, die mit dynamischem Schwung das 93 Meter breite Hafenbecken überspannen und von Kindern gleichzeitig auch als “Sprungschanze” geschätzt werden.

Wesentlich zurückhaltender präsentierte sich zuvor die Umgestaltung des Skulpturengartens im Kröller-Müller Museum in Otterlo bei Arnheim (1995-97), das nach einer Erweiterung in den späten 70-er Jahren seine Beziehung zur umgebenden Landschaft verloren hatte. Um wieder die ursprüngliche Vision des durch Henry van de Velde entworfenen Museums als einen Ort der Interaktion zwischen Kunst und Natur zu erfüllen, entwickelte West 8 einen Vier-Jahreszeiten Skulpturen-Garten, mit dem der Museumspark zu einem landschaftlichen Environment umgestaltet wurde und der gleichzeitig einen differenzierten Kontext für die gezeigten Exponate bietet.

Ein ähnlich gelungenes Zusammenspiel zwischen Architektur und landschaftlichem Kontext gelang West 8 bei der Außenraumgestaltung des von Ben van Berkel entworfenen Möbius-Hauses (1993-97) im Landschaftspark “Het Gooi” bei Hilversum. Die an der Form des Möbiusbandes orientierte, schleifenartige Struktur des Gebäudes schafft eine dynamische Verschmelzung zwischen Innen und Außen, mit der die charakteristischen Aspekte der umgebenden Parklandschaft in den Innenraum einbezogen und in den Tagesrhythmus der Bewohner integriert werden. Am frei tragenden Ende wird der Blick nach außen auf eine große sandige Vertiefung gelenkt, am gegenüber liegenden Ende schweift er über weit ausgestreckte Felder.

“Am Anfang eines Projektes wünsche ich mir meist Leere”, meint Adriaan Geuze. “Denn Leere ist wie Stille eine öffentliche Qualität, die uns allen gehört. Aber nach und nach merkt man dann, dass jeder einzelne Quadratmeter bereits verplant und vermessen ist – vor allem hier im dicht besiedelten Holland. Und spätestens dann sehne ich mich nach Entwerfern, die den Raum befreien, indem sie bewusst Verfremdungen schaffen und damit zum Nachdenken anregen.” Zwei wesentliche Strategien von Geuze sind deshalb Ironie und Surrealität; etwa bei der Außenraumgestaltung des durch Wiel Arets geplanten Hauptsitzes für den Möbeldesign-Hersteller Lensvelt in Breda (1997) – einer lang gestreckten gläsernen Box, deren ätherische Präsenz und strenge Geometrie sich fast nahtlos in die durch Wassergräben aufgerasterte niederländische Landschaft einfügt. Um die fast unwirkliche industrielle Präsenz des Fabrikgebäudes zu unterstreichen, entwickelte West 8 ein Gelände mit Bäumen und einem Feld von Blumen und türmte außerdem noch einen ovalen Erdhügel auf, der durch unterirdische Düsen bisweilen sogar dunstigen Nebel aussenden kann…

Die Teilung zwischen der Fabrik im weitaus größeren südlichen Bereich und den Büros im nördlichen Bereich wird durch ein rund 2,50 Meter über die Erde gehängtes Aluminium-Volumen formuliert. Darunter gelangen die Besucher unverhofft in einen langgestreckten Innenhof, der von West 8 als zen-artiges Stilleben mit einer hölzernen Rampe, Gingko-Bäumen und einem skulpturalem Wall aus scharfkantigem Schiefer gestaltet wurde – der Besuch beim Möbeldesigner als rituelle Passage!

Einen ähnlich surrealen Ansatz verfolgte auch der Entwurf für den ‘Arteplage’ in Yverdon-les-Bains – einer von vier Standorten der Schweizer Expo 2002. Das vorgegebene Thema “Sexualität und menschliche Sinne” wurde dabei vor allem durch ein symbolisches Spiel mit dem Element Wasser inszeniert, das im Reich der Sinne mit Verlangen assoziiert wird. Im Park selbst spiegelte sich dieser Zusammenhang durch einen künstlichen See sowie durch die Abwesenheit von Wasser in der temporalen Kieswüste direkt neben dem Eingangsterminal wider. Ein weiteres wichtigstes Gestaltungselement waren sechs Meter hohe künstliche Dünen, die mit zahllosen duftenden Blumen in kraftvollen, fast psychedelischen Farben und Formen bepflanzt wurden. Gesteigert wurde der unwirkliche Eindruck der temporären Landschaft durch Medieninstallationen und eine künstliche Wolke als “Objekt der Begierde” im angrenzenden See.

“Früher war der Stadtpark selbstredend das Gegenteil zur Stadt”, berichtet Adriaan Geuze. “Die heutige Stadt mit ihrer komplexen Infrastruktur und den sich ausbreitenden Vororten erfordert jedoch völlig neue Antworten.” Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist selbstbewusst, mobil, nutzt die Potenziale neuer Technologien und nimmt erfinderisch die verschiedensten Freiräume in Besitz. Um dazu die geeigneten Räume zu schaffen, setzen die Planer von West 8 ganz gezielt auf ungewohnte Konfrontationen zwischen Stadt und Landschaft – etwa mit ihrem Entwurf für den innerhalb des bestehenden Rotterdamer Universitätsgartens geplanten “Erasmusgarten” (2001), der neben einem Ruhebereich zum Lesen und Verweilen auch mehrere Laubengänge über dem existierenden Kanalsystem vorsieht. Entlang dieses fast schon unwirklich anmutenden “botanischen Tunnels” aus herabhängendem Blauregen, Wasserlilien, grünem Farn und roten Mauern ermöglichen die Planer den Besuchern ruhige Bootsfahrten.

Bei dem 1998 realisierten Stadtpark für die Zentrale der Interpolis-Versicherung in Tilburg hatte West 8 zuvor eine holzgedeckte Brücke entwickelt, die ein direkt an das Gebäude angrenzendes Plateau mit schweren, bruchrauhen Schieferplatten überquert. Nur weniger Meter weiter nimmt ein lichter Magnolienhain dem steinernen Plateau seine Schwere. Ein weiteres zentrales Element des Parks sind mehrere bis zu 85 Meter lange Wassertische aus schiefergrauen Betonwannen, die einen innerstädtischen Lebensraum für Wasserlilien und Frösche bereitstellen. Ähnlich gelungene Dialoge zwischen Künstlichkeit und Natur zeigen auch die Planungen für die Umgestaltung des innerstädtischen Park Jean-Baptiste Lebas in Lille (2002), zur Umgestaltung des König Heinrich Platzes in Duisburg (2001) und zur Umwandlung einer stillgelegten Bahnlinie im südkoreanischen Gwangju (2001), die in den Entwürfen von West 8 zu einer grünen Ader in der Stadt transformiert wurde. Zentrales Element der Planung ist eine mit riesigen Blumenkübeln gestaltete Fußgängerbrücke. Beim Londoner Chiswick Park (1999-2000) stellte West 8 dem städtebaulichen Umfeld eines durch Richard Rogers gestalteten Büroquartiers zwei klar voneinander abgetrennte Zonen entgegen: Die “äußere Landschaft” schafft einen einfachen immergrünen Gürtel für die angrenzenden Bürogebäude, der “innere Garten” wird dagegen durch natürliche Materialien und warme rote Farben bestimmt: Mit Wasserlilien, einer gewölbten Holzbrücke, einer hölzernen Uferpromenade und einem felsigen Wasserfall bezieht sich die Gestaltung nicht nur auf Bilder von Claude Monet, sondern greift gleichzeitig die zu Beginn des letzten Jahrhunderts so populären Einflüsse aus China und Fernost auf.

Noch in der Umsetzung befindet sich dagegen die Masterplanung für rund 11.000 Wohnungen, einen Gewerbepark und eine Einkaufszone im Amersfoorter Stadtteil Vathorst. Zentrales Element des 400 ha großen Viertels ist das nach dem Vorbild der Altholländischen Wasserstadt konzipierte und inzwischen als “Venedig von Amersfoort” bezeichnete Quartier “De Laak”, für das West 8 ein hochverdichtetes Gewebe aus etwa 4.500 Wohnungen, Wasserwegen, Straßen, Brücken und Plätzen entworfen hat. Die unter anderem durch Hans Kollhoff, Claus & Kahn und De Architecten Cie. geplante Architektur wird vor allem durch extrem hohe Geschosshöhen, eigene Tiefgaragen und begrünte Innenhöfe geprägt. “Wir wollen, dass sich die Bewohner und ihre Kinder am Wasser wohl fühlen”, erklärt Adriaan Geuze. Im Sommer können sie hier baden, im Winter Schlittschuh fahren. Für die Fahrt zum Einkauf soll jedem Bewohner außerdem ein durch West 8 gemeinsam mit einem Schiffsbauer entwickeltes Boot überreicht werden – die sogenannte “Laak-Jolle”.

© Text: Robert Uhde

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