“Licht, Luft und Raum”

Created for DBZ - Deutsche Bauzeitschrift in 2004

Kategorie

  1. Architekturjournalismus

DSCN2427-ausschnitt

Umbau der Van Nelle Fabrik in Rotterdam

Die zwischen 1925 und 1931 nach Plänen von Jan Brinkman und Leen van der Vlugt entworfene Van Nelle Fabrik gilt als eine der wichtigsten Ikonen der Niederländischen Moderne. Nach der Einstellung der Produktion Mitte der 90er-Jahre wurde der Komplex inzwischen unter Leitung des Rotterdamer Architekten Wessel de Jonge zur “Van Nelle Ontwerpfabriek” umgenutzt. Die Fabriken selbst wurden dabei nach Plänen des Amsterdamer Büros Claessens Erdmann mit flexibel vermietbaren Büroeinheiten ausgestattet.

Mit seiner funktionalen Rationalität und seinen großflächig verglasten Vorhangfassaden ist die Rotterdamer Van Nelle Fabrik eines der faszinierendsten Beispiele modernen Industriebaus. Zwischen 1931 und 1996 wurden auf dem rund 10 ha großen Komplex rund um die Uhr Kaffee, Tee und Tabak produziert. Nach der Einstellung der Produktion hatte die Anlage ihre ursprüngliche Funktion verloren. Schon kurze Zeit später entstand die Idee, die ehemaligen Fabrikgebäude zur “Van Nelle Ontwerpfabriek” mit flexiblen Büroeinheiten für Unternehmen aus den Bereichen Medien, Design, Architektur, Film, Internet und Kultur umzubauen. Als Supervisor für die Umbaumaßnahmen beauftragte die als Genossenschaft eingetragene “C.V. Van Nelle Ontwerpfabriek” schließlich den vor Ort ansässigen Architekten Wessel de Jonge – bekannt unter anderem durch seine aufwändige Sanierung des ebenfalls aus den 20er-Jahren stammenden Sanatoriums “Zonnestraal” in Hilversum von Architekt Jan Duiker.

Die helle und offene Ausstrahlung der Van Nelle Fabrik ist auch nach Umbau vollständig erhalten geblieben – der inzwischen als “Rijksmonument” eingestufte und demnächst wohl für die Weltkulturerbeliste der UNESCO vorgeschlagene Komplex atmet noch immer das durch Kees van der Leeuw, dem damaligen Direktor der Fabrik, vorgesehene Konzept von “Licht, Luft und Raum”. Direkt hinter dem elegant geschwungenen Bürogebäude am Haupteingang, dessen Umnutzung durch die Delfter Architekten Molenaar Van Winden sich noch in der Planungsphase befindet, trifft der Blick auf den rund 220 Meter langen Fabrikriegel. Er setzt sich aus drei einzelnen Volumen zusammen, die jeweils durch ein dazwischen liegendes, offenes Treppenhaus miteinander verbunden werden – vorne das achtgeschossige Gebäude der Tabakfabrik mit dem auf dem Dach gelegenen runden, gläsernen Teeraum, dahinter die sechsgeschossige Kaffeefabrik und schließlich die dreigeschossige Teefabrik. Vis-à-vis liegen das durch langgestreckte Luftbrücken mit dem Hauptgebäude verbundene und ebenfalls dreigeschossige Speditionsgebäude, das Maschinengebäude, die Schiehallen sowie einige kleinere Baukörper in Richtung Nordwesten. Das Gelände des ehemaligen betriebseigenen Fußballplatzes dient inzwischen als Parkplatz.

Die Van Nelle Fabrik wurde durch Brinkman & Van der Vlugt in Stahlbetonskelett-Bauweise mit durchgehender Vorhangfassade aus Stahl und Glas errichtet. Einenähnlich offenen Eindruck bietet das Innere der Fabrik, wo sich den Arbeitern eine lichtdurchflutete Arbeitsatmosphäre mit freien Sichtbeziehungen bot. Um den Originalzustand so weit wie möglich zu erhalten, verfolgte Wessel de Jonge in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz den Anspruch, sämtliche Eingriffe auf ein Minimum zu reduzieren. Die Vorhangfassade wurde daher bis auf den Austausch einiger zerstörter Fenster und einem Rostschutz-Anstrich mit Aluminiumfarbe im vorgefunden Zustand belassen. Und auch die Tragkonstruktion mit den flachen Decken und den mächtigen, nach amerikanischem Vorbild errichteten “Pilzstützen” befand sich in gutem Zustand und konnte erhalten werden.

Bei der Umgestaltung der Innenräume erwies es sich als großer Vorteil, dass Brinkman & Van der Vlugt seinerzeit sämtliche Treppenhäuser, Fahrstuhlschächte, Toiletten und Waschräume außerhalb des Konstruktionssystems der Fabrikräume platziert hatten. Auf diese Weise entstand ein durchgehendes Raumkontinuum, das heute wie damals ein hohes Maß an Flexibilität bei der Grundriss-Einteilung bietet. Die Integration der in sämtlichen Fabrikgebäuden auf allen Ebenen neu eingefügten Bürozellen konnte daher ohne tiefere Eingriffe in die Bausubstanz realisiert werden. In den durch einen offenen Luftraum sowie durch zwei Wendeltreppen miteinander verbundenen Geschosse 2 + 3 der ehemaligen Kaffeefabrik nutzten die mit der Umbauplanung beauftragten Architekten Claessens Erdmann den faszinierenden Raumeindruck außerdem zur Schaffung eines offenen Lunchrooms mit Café als gemeinsamem Treffpunkt für sämtliche in der Ontwerpfabriek tätigen “Kreativen”. Zentraler Blickfang ist dabei ein rund 30 Meter langer Besprechungstisch, der in Zusammenarbeit mit verschiedenen Möbelherstellern wie Thonet oder Gispen bestuhlt wurde.

In dem durch eine Brüstung mit dem Lunch-Bereich verbundenen dritten Geschoss finden sich als weitere übergreifende Funktionen drei Konferenzräume, die als gläserne Boxen in den Raum integriert wurden. Bei Bedarf lassen sich beide Ebenen für Kongresse, Diners oder Firmenpräsentationen vermieten. Ebenfalls für besondere Anlässe gedacht sind die weitgehend im vorgefundenen Zustand belassenen Erdgeschosse der drei Fabriken sowie die ebenfalls umgebauten Schiehallen. Und wenn es noch exklusiver sein soll, dann steht auf dem Dach der Tabakfabrik der kreisrunde “Teepavillon” mit traumhafter Aussicht auf die Dächer von Rotterdam zur Verfügung.

In sämtlichen Bereichen gelang es den Architekten, die teilweise historischen, teilweise aber auch erst in späteren Jahrzehnten eingefügten Details sensibel mit den Anforderungen der neuen Nutzer zusammen führen. Originalgetreu restaurierte, mit dunkelrotem Lack behandelte Böden treffen dabei auf neu eingesetzte Stahltüren und Brandschutzeinbauten, aluminiumfarben gestrichene Profile, historische Wascharmaturen sowie ockergelbe oder mintgrüne Kacheln auf neu integrierte moderne Leuchtkörper.

Die umfangreichste Umbaumaßnahme innerhalb der Büroetagen war der Einbau zweier leicht zurückversetzter, innen liegender Glas-Aluminium-Fassaden mit speziell für diesen Zweck entwickelten Profilen zur Integration von Kabeln und Internet-Leitungen. Mit diesem einfachen Konzept einer zweiten Gebäudehülle gelang den Architekten nicht nur ein intelligentes Konzept zur Erschließung der einzelnen Bürozellen, die doppelte Fassade bietet gleichzeitig auch die Grundlage für eine Optimierung der Binnenklimatisierung. Das historischeäußere blieb dabei vollständig intakt, da die neu eingefügte Innenschale von außen nicht sichtbar ist.

An der Nordostseite des Gebäudes wurde die Innenfassade rund 2,50 m hinter der bestehenden Außenfassade platziert und somit Raum für den Erschließungsgang zu den einzelnen Büroeinheiten geschaffen. Die Innenfassade an der Südwestseite liegt dagegen lediglich einen Meter hinter der Außenfassade – die doppelte Verglasung wirkt hier als Klimafassade gegen sommerliche überhitzung sowie als Lärmschutz gegen die anliegende Hauptstraße. Die Zufuhr von Frischluft erfolgt in Abhängigkeit von der Jahreszeit: Im Winter wird sie über die automatisch geöffneten Fenster an der Südwestseite eingeführt und von dort weiter in die Büros geleitet, im Sommer gelangt sie von der Nordostseite her über den Gang und die öffnungen in der Innenfassade nach innen.

Sämtliche Leitungen für die mechanische Entlüftung verlaufen unter einer von außen nicht sichtbaren Holzabdeckung, die vor der Südwestfassade des Gebäudes zwischen den Säulen und den Außenbrüstungen integriert wurde. Die Leitungen der Zentralheizung und der Kühlung sowie die gesamte Verkabelung wurden gleichzeitig in die im Zuge des Umbaus leicht angehobene Decke integriert, von wo aus sie jeweils die darunter liegenden Ebenen bedienen. Sämtliche Decken konnten somit frei von Versorgungsleitungen bleiben und brauchten nicht verkleidet werden, so dass die imposante Räumlichkeit der Fabrik auch nach dem Umbau spürbar bleibt. Ein interessantes technisches Detail ist dabei die “original” erhaltene, mit gefiltertem Kanalwasser gespeiste Sprinkleranlage aus den 70er-Jahren, die jetzt entsprechend dem ursprünglichen Farbkonzept schwarz lackiert wurde.

Direkt gegenüber der Fabrik fällt der Blick auf das nach Plänen von Wessel de Jonge sanierte und umgenutzte ehemalige Speditionsgebäude, das künftig die 150 Mitarbeiter des Rotterdamer Architekturbüros Kuiper Compagnons beherbergen soll. Als wichtigste Umbaumaßnahmen erfolgten hier die der Einbau neuer Raumtrennungen aus Glas, Aluminium und Polycarbonatplatten, die Integration eines innen liegenden Treppenhauses sowie die öffnung des Daches durch ein großes Oberlicht. Als reizvolle Option wird hier gegenwärtig die Nutzung der zum Hauptgebäude führenden Luftbrücken diskutiert, die seinerzeit jedoch ausschließlich zum Warentransport konzipiert wurden. Durch den Einbau einer Personenschleuse könnte das Problem jedoch gelöst werden. Aus dem ehemaligen Weg des Kaffees würde dann der Weg zum Café werden.

© Text und Fotos: Robert Uhde

Nächstes Projekt