“Markanter Brückenschlag”

Created for industrieBAU in 2006

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  1. Architekturjournalismus

Hauptsitz Unilever in Rotterdam

In Rotterdam ist vor wenigen Wochen der neue Hauptsitz von Unilever Nederland bezogen worden. Mit seiner kühnen Architektur aus Stahl und Glas schafft der durch die Utrechter JHK Architecten geplante Bau einen spannenden Blickpunkt am südlichen Maasufer und überspannt dabei ein historisches Fabrikgebäude von 1891. Um die Produktion während der Bauphase ohne Unterbrechungen fortführen zu können, wurde die komplett aus industriell vorgefertigten Komponenten bestehende Stahlträgerkonstruktion zunächst auf einem Nebengrundstück vormontiert, um dann als Ganze an den eigentlichen Standort transportiert zu werden.

Mit rund 220.000 Mitarbeitern in über 100 Ländern ist die 1930 aus der Fusion der Firmen Van den Bergh & Jurgens (Margarine Unie) und Lever Brothers Ltd. hervor gegangene Unilever AG mit Sitz in Rotterdam und London einer der größten Konzerne weltweit. Eines ihrer wichtigsten Geschäftsfelder ist der unter dem Dach der „Unilever Bestfoods“ angesiedelte Bereich Nahrungsmittel mit Marken wie Becel, Knorr, Iglo oder Langnese, der sich nach zahlreichen Übernahmen inzwischen zum viertgrößten Nahrungsmittelhersteller weltweit entwickelt hat. Seinen geschichtlichen Ursprung hat Unilever Nederland auf einem Grundstück am Nassaukade im Rotterdamer Arbeiterviertel Feyenoord, auf dem Van den Bergh & Jurgens 1891 einst die ehemalige Margarinefabrik „Blue Band“ errichtet hatten. Durch die gewaltige Expansion des Mutterkonzerns Unilever wurde der Standort sukzessive durch Büros, und nach der Übernahme von Bestfoods Benelux schließlich zum Hauptsitz der heutigen Unilever Nederland erweitert.

Expressive Stahlkonstruktion

In Ergänzung zur alten, in Backstein errichteten Fabrik hatten sich auf dem Nassaukade im Lauf der Jahrzehnte nach und nach auch die Abteilungen Leitung, Marketing und Verkauf in sechs verschiedenen Gebäuden angesiedelt. Um sämtliche dieser Bereiche unter einem Dach zu integrieren und gleichzeitig auch die neu hier angesiedelte Belegschaft der inzwischen integrierten ehemaligen Bestfoods Benelux unterbringen zu können, entschied sich die Unternehmensleitung der Unilever Nederland Anfang 2000 dazu, einen Architekturwettbewerb für eine neue Firmenzentrale für 700 Mitarbeiter auszuschreiben. Planungsvorgabe war der Wunsch des Unternehmens nach einem markanten und Identität stiftenden Neubau mit einer flexiblen Bürofläche von 15.000 Quadratmetern, den der Konzern anschließend für mindestens 10 Jahre als Alleinmieter betreiben wollte.

Nach Ansicht der vorgelegten Konzepte entschied sich Unilever schließlich für den Entwurf, den der vor Ort ansässige Projektentwickler Dura-Vermeer gemeinsam mit den Utrechter JHK Architecten und den Rotterdamer Landschaftsarchitekten West 8 vorgestellt hatte. Als erster Abschnitt dieser Planung wurde jetzt der rund 133 Meter lange und 32 Meter breite Büroriegel fertiggestellt. In 25 Metern Höhe überspannt der Bau die darunter liegende, 115 Jahre alte Blue-Band-Fabrik – gerade so, als würde die transparente Stahl-Glas-Konstruktion über dem Altbau schweben, weshalb der Bau hier in Rotterdam nur die „Brücke“ genannt wird. Um dabei die reizvolle Aussicht auf die alte Margarine-Fabrik so wenig wie möglich zu verbauen, wurde der Neubau leicht schräg zum Altbau platziert. Das gesamte Gebäude besteht ausschließlich aus Stahlkomponenten, lediglich bei der Errichtung der Geschossdecken wurde Stahlbeton eingesetzt.

Städtebauliches Gesamtkonzept

Der spektakuläre und weithin sichtbare Büroneubau ist Teil einer umfassenden städtebaulichen Planung, die auch die Umstrukturierung und Umnutzung des direkt hinter der bestehenden Fabrik liegenden – und durch Unilever vor einigen Jahren aufgekauften –, Geländes der bereits in den neunziger Jahren abgerissenen Oranjeboom-Brauerei einschließt. Da das Gesamtareal gleichzeitig Bestandteil einer innerstädtischen Revitalisierung und Aufwertung des ehemaligen Arbeiterstadtteils Feyenoord ist, mussten dabei als Auflage durch die Stadt Rotterdam zusätzlich auch mindestens 250 Wohnungen integriert werden.

Die ursprünglich durch Unilever angedachte Planung sah vor, den neuen Bürokomplex auf der Fläche der ehemaligen Oranjeboom-Brauerei zu errichten. Doch um diesen Baugrund für mehr als lediglich die durch die Stadt Rotterdam geforderten Wohnungen nutzen zu können, entwickelte das Dreierkonsortium aus Dura Bouw, JHK und West 8 die schließlich realisierte Idee, mit dem neuen Bürogebäude die alte Fabrik zu überspannen und die zur Verfügung stehende Fläche so doppelt zu nutzen. Die spektakuläre Planung schuf nicht nur das durch Unilever gewünschte markante architektonische Zeichen, sondern ermöglichte zudem auch Platz für einen kleineren, voraussichtlich 2007 fertiggestellten Neubau, der neben 471 PkW-Stellplätzen und weiteren 3.400 Quadratmetern Bürofläche auch die bislang in mehreren temporären Bauten untergebrachten Funktionen Rezeption und Lager integrieren soll, so dass der gesamte Uferbereich dann frei bleiben kann. Die Entscheidung, nicht als Bauherr fungieren zu müssen, sondern den Neubau langfristig als Alleinmieter von Dura-Vermeer betreiben zu können, lässt dem Unternehmen gleichzeitig ausreichend finanziellen Spielraum für Investitionen in neue Produkte. Inzwischen wurde der Bau an Siemens Nederland verkauft, die Bedingungen für Unilever haben sich dadurch aber nicht verändert.

Neues Wohnquartier

Ein weiterer Vorteil der veränderten Bebauungsplanung war, dass nunmehr das gesamte Oranjeboom-Terrain komplett zur Bebauung mit Wohnungen zur Verfügung stand, so dass Unilever Nederland das wenige Jahre zuvor aufgekaufte Oranjeboom-Grundstück wieder verkaufen konnte, um so die Mehrkosten der aufwändig geplanten „Brücke“ zum größten Teil refinanzieren zu können. Auf dem 22.000 m2 großen Gelände wird nach der durch das Planungsbüro West 8 vorgestellten Bebauungsplanung in den nächsten Jahren das durch den Projektentwickler Dura Vermeer Stedelijke Ontwikkeling realisierte Wohnquartier „Koopmansstad“ entstehen, das 300 Wohneinheiten, eine Kindertagesstätte sowie kleinere Geschäften vorsieht und so die Wohn- und Lebensqualität im ehemaligen Arbeiterstadtteil Feyenoord weiter erhöhen soll.

Schwebende Bürolandschaft

Bislang realisiert ist von der umfangreichen Gesamtplanung der schwebende Büroriegel, der mit seiner expressiven Stahlkonstruktion einen gelungenen städtebaulichen Bezug zu den Kränen im Rotterdamer Hafen sowie zu der auf der gegenüber liegenden Maasufer gelegenen, unter Denkmalschutz stehenden Eisenbahn-Hebebrücke „De Hef“ aus dem Jahr 1927 schafft. In seinem Zentrum ruht der gesamte Aufbau auf einem mächtigen Stahlsockel, in dessen Innerem Aufzüge, Treppenhäuser sowie sanitäre Anlagen angesiedelt sind. Zur Maas hin wird der Bau zudem durch zwei V-förmige Stahlstützen mit einem Durchmesser von 1,20 m gestützt, weitere Stützen befinden sich in gegenüber liegender Richtung. Das Stahlskelett selbst besteht aus vier horizontalen Stahlbindern, zwei stärkeren Stahlbindern im Gebäudeinneren sowie zwei schlankeren Stahlbindern an der Außenfläche der Fassade. Verstärkt wird die Konstruktion durch weitere Vertikal- und Diagonal-Verstrebungen zwischen den Innen- und Außenbindern sowie durch die vier Stahlbetondecken.

Im Inneren des spektakulären und weithin sichtbar über dem Wasser der Maas thronenden Neubaus stehen den Mitarbeitern auf insgesamt vier Ebenen rund 700 lichtdurchflutete und kommunikative, durch moderne Bürokonzepte intelligent organisierte Arbeitsplätze mit traumhafter Aussicht auf den Fluss und die imposante Hochhaus-Silhouette der Innenstadt am gegenüber liegenden Ufer zur Verfügung. Sämtliche Ebenen zeichnen sich durch die Integration offener Flure, heller Atrien, begrünter Innenhöfe und offener Treppen sowie durch die Bündelung der Service-Bereiche im Kern des Gebäudes aus. Ähnlich innovativ präsentiert sich auch das bewusst nachhaltig angelegte haustechnische Konzept, das unter anderem die Integration von Kühldecken sowie die energiesparende Kühlung bzw. Heizung des Gebäudes durch das relativ konstant temperierte Maaswasser vorsieht.

Effektive Vorfertigung

Eine der größten Herausforderungen bei der Planung des Projektes war der Wunsch von Unilever Nederland, während der gesamten 30-monatigen Bauphase seinen Produktionsbetrieb aufrecht erhalten zu können. Um diese Vorgabe realisieren zu können, entschied sich die mit der Bauleitung betraute Dura Vermeer Bouw in enger Absprache mit sämtlichen beteiligten Parteien dazu, die gesamte Stahlträgerkonstruktion zunächst auf dem angrenzenden Oranjeboom-Areal vorzumontieren und anschließend im September 2003 als Ganze mit hydraulischen Hubmaschinen, Gleitschienen und Kränen über das Fabrikgebäude zu transportieren. Insgesamt mussten auf diese Weise rund 2.500 Tonnen Gewicht über die gesamte Entfernung von rund 200 Metern befördert und anschließend über 25 Meter in die Höhe gehoben werden, um dort passgenau auf die zuvor dort errichteten Stützen bzw. den Sockel montiert zu werden. Als zusätzliche Herausforderung musste bei diesem hoch komplexen, letztlich aber ohne größere Probleme realisierten Montagevorgang eine Drehung von 22 Grad bewältigt werden, da der Neubau schräg zum Bestand platziert liegt.

Aufgrund seiner weitgehenden Verwendung von industriell vorgefertigten und auf der Baustelle in einer Art „plug-and-play-Technik“ zusammen montierten Elementen, wurde die Brücke 2002 zu einem Demonstrationsprojekt des niederländischen Verbandes IFD für „industrieell, flexibel en demonatabel Bouwen“ ernannt. Denn letztlich wurden nicht nur sämtliche Teile der Stahlkonstruktion auf dem angrenzenden Terrain auf 25 Meter hohen temporären Stützen montiert, sondern es wurden auch sämtliche anderen Elemente des Gebäudes wie Fassaden, Wände oder Decken komplett aus industriell vorgefertigten Komponenten gefertigt. Selbst die vier Geschossböden – die aus kalt gewalzten und von den Deckenträgern gestützten Stahlbodenplatten bestehen, über die Stahlbaumatten ausgebreitet wurden und anschließend eine flache Leichtbetonschicht gegossen wurde –, wurden erst nach dem Transport des Quaders an ihrem endgültigen Standort eingezogen. Die Nutzung dieser „plug-and-play-Technik“ aus industriell vorgefertigten Komponenten ermöglichte nicht nur, wie gefordert, die Aufrechterhaltung der Produktion, sondern es gelang auch, das eng bebaute Unilever-Areal optimal zu nutzen und den monumentalen alten Fabrikkomplex unbeschädigt zu erhalten. Als spannenden und Identität stiftenden Kontrast zwischen Alt und Neu.

© Text + Foto: Robert Uhde

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