“Verdichtete Utopien”

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  1. Architekturjournalismus

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Das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV

Mit einem Doppelwohnhaus in Utrecht, einem Sendegebäude in Hilversum und einem spektakulären Altenwohnheim in Amsterdam konnte das junge Rotterdamer Architekturbüro MVRDV vor zwei Jahren für grosses Aufsehen sorgen. 1998 haben die drei Architekten Winy Maas (*1959), Jakob van Rijs (*1964) und Nathalie de Vries (*1965) ein „Theoriejahr“ eingeschoben, um ihre Utopien einer Stadt der Zukunft weiter verdichten zu können.

Ein wuchtiges, quaderförmiges Hafengebäude nahe dem ältesten Teil des Rotterdamer Hafens. Ganz oben, im dritten Stock, befindet sich das Büro von MVRDV. Zwischen zahllosen Modellen aus Holz, Harz, Karton oder Kork schwirren 25 überwiegend junge Mitarbeiter durch die grosszügig angelegten Räume. Zwischendurch fällt der Blick auf die gewaltigen Wassermassen der Maas – Sturm und Drang hier wie dort, eine Stimmung fast wie an der Amsterdamer Börse. Immer häufiger kommt es inzwischen vor, dass das nach den Namensinitialien der drei Architekten benannte Büro auch Aufträge ablehnen muss.

Der Gründung von MVRDV vor sieben Jahren gingen ein gemeinsames Studium an der TU in Delft und Erfahrungen bei Rem Koolhaas in Rotterdam, bei Berkel & Bos in Amsterdam und bei Mecanoo in Delft voraus. Winy Maas hatte überdies ein Landschaftsarchitektur-Studium absolviert und für die Unesco in Nairobi gearbeitet. Danach lief alles sehr schnell: Nachdem die drei Architekten schon 1991 mit dem Projekt „Berlin Voids“, eine Wohnbebauung im Prenzlauer Berg in Berlin, den Europan-2-Wettbewerb für sich entscheiden konnten, folgte 1993 der Auftrag für den Bau eines zentralen Sendegebäudes für den Alternativ-Radio-Sender VPRO in Hilversum (1993-1997). Die Radiomacher wollten die 13 über die gesamte Stadt verteilten Villen des Senders zu einem einzigen Standort zusammenführen. Als moderne Adaption von Herman Hertzbergers Centraal Beheer Bürogebäude in Apeldoorn (1968-1972), das in der Ära nach Achtundsechtzig eine deinstitutionalisierte und partizipatorische Architektur versucht hatte, errichtete MVRDV einen vollständig transparenten, fünfgeschossigen Betonbau, dessen mäandrierende Ebenen durch raffiniert angelegte Stege, Rampen und Treppen fliessend ineinander übergehen. Damit ergibt sich ein spielerisch gestaltetes Raumkontinuum von eher öffenlichen Zonen bis zu intimeren Räumen, das eine gelungene Transformation der spezifischen Atmosphäre der alten Villen darstellt.

© Text + Foto: Robert Uhde

Zeitgleich mit dem VPRO-Gebäude stellten die MVRDV-Architekten ihren Woonzorgcomplex (WoZoCo) in Amsterdam Osdorp vor. Ausrichtung und Höhe der unansehnlichen Gartenstadt aus den 50er Jahren waren baurechtlich festgelegt. MVRDV machte daraus eine gestalterische Tugend und hängte 13 der 100 Wohnungen als freischwebende Volumen von der Fassade ab. Eine perfekt inszenierte Ausnutzung des vorhandenen Raumes! Ähnlich auch der Grundgedanke für die Villa KBBW, einem viergeschossigen Zweifamilien-Haus in Utrecht, das Winy Maas gemeinsam mit dem Architekten Bjarne Mastenbroek (De Architektengroep, Amsterdam) errichtete: Mit den beiden zickzackartig miteinander verklammerten Wohnungen, deren transparente Fassaden ein völliges Verschmelzen von Innen- und Aussenraum erzeugen, zeigen die Architekten, dass sich das von ihnen vertretene Prinzip des Verschachtelns und Verdichtens auch auf den Wohnungs- und Siedlungsbau anwenden lässt.

Je weiter man sich mit den städtebaulichen Theorien von MVRDV auseinandersetzt, desto mehr geraten die vor Ort so individuellen Lösungen zu gebauten Manifesten von Urbanität und Verdichtung. In „Farmax“, einem 753 Seiten dicken Buch von MVRDV, in dem der Leser durch utopische Szenarien für die Rotterdamer und Amsterdamer Innenstadt geführt wird, propagieren die Architekten eine Steigerung der Kapazitäten unseres derzeitigen Lebensraumes durch horizontales und vertikales Zusammenballen mit maximaler Konzentration verschiedener Funktionen. Deutlich sichtbar bleibt dabei der Einfluss von Rem Koolhaas, dessen Buch „S,M,L,XL“ kurz vor der documenta X (1997) einen neuen Typus Architekturbuch vorstellte. Zwar behandelt Koolhaas nur seine eigenen Projekte und denkt weniger stark in Manifesten, dennoch beschwört auch er auf essayistische Weise ein neues architektonisches Zeitalter herauf.

Für Rem Koolhaas besteht der bedeutendste Beitrag Amerikas zum urbanen Design in den geballten Hochhaus-Zentren der Städte, ein Phänomen, das er als „Culture of Congestion“, „Kultur der Ballung“, bezeichnet. Ähnliches schwebt auch den Architekten von MVRDV vor: „Immer mehr Regionen der Welt sind zu mehr oder weniger durchgehenden städtischen Ballungsgebieten geworden. In Europa zeigt das allmähliche Zusammenwachsen der Gegenden Oberitalien, Rhein-Main-Gebiet, Ruhrgebiet oder der niederländischen Randstad (das zusammenwachsende städtische Netz zwischen Rotterdam und Amsterdam), wie wichtig es ist, sich Gedanken über die Stadt der Zukunft zu machen“, meinen die Architekten von MVRDV. Der zunehmenden Langeweile, die aus dieser homogenen Zersiedelung resultiere, stellen sie das Konzept einer abwechslungsreichen Kombination von vertikal und horizontal verdichteten Ballungszentren und „künstlichen“ Naturflächen („Light Urbanism“) entgegen.

Gegenwärtig arbeiten Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries an der Computeranimation Metacity/Datatown. Das bis zum 19. April in der Galerie Aedes East in Berlin und zuvor bereits in der Stroom Galerie in Den Haag gezeigte Projekt stellt einen visionären Stadtentwurf vor, der auf einer akribischen Extrapolation niederländischer Statistiken beruht. In einem kleinen begehbaren Kubus, dessen Wände aus Projektionsflächen bestehen, werden die Ausstellungsbesucher auf eine 20 minütige digitale Reise durch einen virtuellen Stadtstaat entführt. „Wie können wir die Stadt in Zeiten der Globalisierung und Bevölkerungsexplosion verstehen? Verlieren wir in dieser unübersichtlichen Fülle die Kontrolle oder können wir den Ursachen nachgehen und sie manipulieren?“, fragen die Architekten und fordern: „Lasst uns die dichteste Stadt der Welt erfinden, die erlaubt, Raum für eine wachsende Weltbevölkerung zu schaffen.“ Ähnlich wie die im letzten Jahr vorgestellten Pläne des niederländischen Architekten Carel Weeber für ein „Wildes Wohnen“ folgt auch Metacity/Datatown von MVRDV einer klassischen Annäherung zur Stadt, nämlich der Dauer von 1 Stunde Reisen (im Mittelalter noch 4 km, mit einem modernen Hochgeschwindigkeitszug sind es heute 400 Kilometer). Der autarke Stadtstaat ist damit vier mal so gross wie die Niederlande. Bei einer ebenfalls viermal so hohen Bevölkerungsdichte (rund 1500 Einwohner je km²) würden hier insgesamt etwa 250 Millionen Einwohner leben – die gesamte Bevölkerung der USA in einer einzigen Stadt!

Innerhalb von Metacity/Datatown unterscheiden die Architekten von MVRDV 26 Sektoren, variierend zwischen Landbau und Wald, Müllplatz und Friedhof und stellen Berechnungen darüber an, wieviel Wald nötig ist, um die Menge an CO² umzuwandeln oder welcher Platz gebraucht wird, um die benötigte Energie durch Windkraft zu erzeugen – eine typisch holländische, beinahe calvinistische Methode: pragmatisch, klar und streng geordnet, beinahe spartanisch. Auch wenn so manche Besucher im Zweifel bleiben werden, ob Metacity/Datatown tatsächlich die Visualisierung einer begehrenswerten Utopie oder eher die Darstellung eines Alptraums zeigt – in der Realität greift die Strategie der Verdichtung allemal und führt sogar zu ungeahnten Freiheiten, wie die bislang fertiggestellten Projekte des Büros beweisen. Im östlichen Hafengebiet von Amsterdam, dem derzeit kompaktesten Neubaugebiet in den Niederlanden, stellt MVRDV gegenwärtig zwei radikal in die Tiefe organisierte, schmale Reihen-Wohnhäuser fertig. Eine der beiden zwischen 4 und 5 Meter breiten und 16 Meter tiefen Parzellen wird sogar nur zur Hälfte bebaut! An die vollständig transparente Innenfassade des Hauses wollen die Architekten zwei geschlossene Volumen hängen, die frei über dem unbebauten Teil des Grundstückes schweben. Innen- und Außenraum sollen so unmerklich ineinander übergehen.

Als weitere Projekte entwickeln die Architekten gerade die „Z-Mall“ für das staatlich festgesetzte Vinex-Gebiet Leidschenveen und den Niederländischen Pavillon für die Expo 2000 in Hannover. Das vertikale Mini-Öko-System soll aus verschiedenen Typen künstlich angelegter Landschaften (Pflanzen, Wasser, Regen, Wind, Strand, Häuser, Wald oder Landwirtschaft etc.) bestehen, die auf insgesamt 35 Metern Höhe durch quadratische Geschossplatten voneinander getrennt und übereinander geschichtet werden. „Die Niederlande, ein Staat mit hoher Bevölkerungsdichte, haben eine lange Tradition der Landgewinnung aus dem Meer. Mit unserem Projekt wollen wir diese Künstlichkeit weiter radikalisieren“, meint Winy Maas optimistisch. Und weiter gedacht: Warum sollen unsere Kinder in Zukunft nicht tatsächlich auf dem 12. Stock spielen? Dort gibt es immerhin einen schönen See und ausserdem fahren hier oben keine Autos!

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