“‘Wildes Wohnen’ auf Borneo”

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  1. Architekturjournalismus

scheepstimmermanstraat-ausschnitt

Wohnbebauung in Amsterdam

In den ehemaligen Osthäfen von Amsterdam ist nach den individuellen Wünschen von 60 privaten Bauherren eine langgestreckte Reihenhauszeile mit Modellcharakter entstanden.

Borneo? Richtig! Liegt im Südchinesischen Meer, ist die drittgrößte Insel der Erde und war bis 1945 durch die Niederlande besetzt. Hier im Osten Amsterdams fallen die Größenverhältnisse freilich um einiges bescheidener aus: Die zwischen Spoorwegbassin im Norden und Entrepothaven im Süden gelegene und seit einigen Jahren zur innenstadtnahen “Wohninsel” umgewandelte Hafenmole “Borneo” ist augenscheinlich nicht 700 000 km2, sondern lediglich 10,7 ha groß. Die Dimensionen sind dennoch gewaltig: neu errichtete Reihenhäuser, so weit das Auge reicht – und mittendrin ein elfgeschossiger Wohn-Meteorit von Koen van Velsen, der wie ein wuchtiger Fels aus dem Meer der flachen Häuserzeilen hervorragt.

Noch hinter dem Superblock, am äußersten östlichen Ende der rund 700 Meter langen und 200 Meter breiten Halbinsel, liegt die Scheepstimmermanstraat – trotz der langgestreckten Häuserreihen, die die Straße zu beiden Seiten hin umsäumen, ein überaus intimer und in sich gekehrter Ort und nicht zuletzt durch die angrenzenden Wasserflächen wie geschaffen für ein nicht nur für Amsterdamer Verhältnisse ziemlich ungewöhnliches Wohnprojekt, bei dem 60 privaten Bauherren die Möglichkeit gegeben wurde, ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche vom Wohnen in der Großstadt zu verwirklichen. Die großflächige Bebauung des östlichen Amsterdamer Hafengebiets – bestehend aus den ehemaligen Molen KNSM, Java, Borneo und Sporenburg – ist bereits seit 20 Jahren im Gespräch. Nachdem das Gelände durch die Verlegung von Hafenaktivitäten zur Brachfläche geworden war, sollten die “überflüssigen” Hafenbecken eigentlich zugeschüttet und mit einer homogenen Blockbebauung zugepflastert werden. Erst als die Stadt Amsterdam zehn Jahre später das atmosphärische und geschichtliche Potential des zentrumsnahen Areals erkannte, konnten die alten Molen erhalten bleiben. Um trotz der veränderten Planung den berechneten Bedarf von 6 000 Wohnungen für insgesamt rund 20 000 Bewohner bereitstellen zu können, sollte die Dichte des neuen Stadtteils durchgehend 100 Wohneinheiten je Hektar betragen.

Nach dem Vorbild der im Süden von Borneo gelegenen Halbinsel “Cruquius”, die schon Ende der 1980er Jahren mit viergeschossigen Bauten bevölkert worden war, wurde auch die kurze Zeit später nach einem Masterplan von Jo Coenen bebaute KNSM-Insel – ganz so, wie es dem Trend der Zeit entsprach – mit großflächigen Stadthäusern bebaut. Die daraufhin nach einem Masterplan von Sjoerd Soeters angegangene Halbinsel Java bildet aus heutiger Sicht eine Art Zwischenstadium hin zu eher individuell orientiertem Wohnen – vorherrschender Wohnungstyp der mit vier Quergrachten unterteilten, langgestreckten Landzunge ist der traditionelle, im Vergleich zur KNSM-Insel eher kleinteilige Wohnblock. Noch weitergehende Schritte in Richtung mehr Individualität und weg von den großen Wohnblöcken sind auf den gegenwärtig bebauten Halbinseln Borneo und Sporenburg zu beobachten: Statt in gemieteten Block-Appartements, wie auf Java oder der KNSM-Insel, leben die meisten Bewohner hier in Reihenhaus-Eigentumswohnungen.

Bei der Ausschreibung für die Entwicklung eines städtebaulichen Konzepts für Borneo und Sporenburg setzte sich das bekannte Planungsbüro West 8 unter Leitung von Adriaan Geuze gegen Vorschläge von Wytze Patijn und Quadrat (alle aus Rotterdam) durch. Das nach einem in Rotterdam häufigen Westwind mit der Stärke 8 benannte Büro gilt auch international als eines der renommiertesten Landschaftsplanungsbüros und ist bisher vor allem durch seine städtebaulichen Entwürfe für den Rotterdamer Schouwburgplein (1990-97) oder für das von Wiel Arets errichtete Lensvelt-Gebäude in Breda (1997) hervorgetreten. Um die geforderte Dichte von 100 Häusern je Hektar Bauland einhalten zu können, sah der von West 8 ausgearbeitete Plan vor, den überwiegenden Teil der insgesamt 2.200 Wohneinheiten auf Borneo und Sporenburg als dreigeschossige und dabei radikal in die Tiefe organisierte Reihenhausbebauung mit Flachdach und individuellem Zugang auszuführen. Die minimalen Freibereiche sollten durch die vorhandenen Hafenbecken kompensiert, die privaten Außenflächen der Wohnungen als Patios und Dachterrassen in die zwischen 4,20 Meter und 6 Meter schmalen und bis zu 40 Meter tiefen Parzellen integriert werden. Um trotz der unterschiedlichen Planung einen Bezug zur Bebauung der benachbarten Hafenmolen zu schaffen und dem Meer an Häusern eine Struktur zu geben, werden dem Reihenhausteppich der Großblock von Koen van Velsen und zwei noch zu bauende Meteoriten von Frits van Dongen (De Architecten Cie.) und Kees Christiaanse – beide auf Sporenburg – zur Seite gestellt.

Auch die Bebauung der Scheepstimmermanstraat folgt im Wesentlichen dem städtebaulichen Konzept von West 8. Im Unterschied zu den übrigen auf Borneo und Sporenburg realisierten Wohnhäusern, die durchgehend von großen Generalunternehmen gebaut wurden, hat die Stadt hier 1996 sechzig privaten Auftraggebern die Möglichkeit gegeben, ihre eigene Wohnung entwerfen und bauen zu können – ein ziemlich einzigartiges Unternehmen, denn erstmals seit dem 17. Jahrhundert verkaufte die Stadt Amsterdam hier Baugrundstücke an Privatpersonen zum Bau von Eigentumswohnungen. Das Projekt steht damit in engem Zusammenhang mit der seit einigen Jahren in den Niederlanden geführten Diskussion über individuelle Auftraggeberschaft in den staatlich festgesetzten Neubaugebieten. Maßgeblich an der Debatte beteiligt ist der Architekt Carel Weeber: Noch Anfang 1980 sagte er das “Ende der Behaglichkeit” des Bauens der 1970er-Jahre voraus und plädierte für großflächige, durch öffentliche Auftraggeber finanzierte Wohnbauten, für Lösungen also, wie sie unter anderem auf Java und der KNSM-Insel realisiert wurden. Rund 20 Jahre später vertritt Weeber das genaue Gegenteil und setzt sich statt dessen für das in der Scheepstimmermanstraat praktizierte “wilde wonen” ein.

Durch einen kleinen Binnenhafen wird der östliche Teil von Borneo in einen nördlichen und einen südlichen Bereich aufgeteilt. Die auf dem nördlichen der beiden Piere zur Verfügung stehende Fläche wurde nach den Plänen von West 8 für zwei langgestreckte, gegenüberliegende Reihenhauszeilen und eine dazwischenliegende, elf Meter breite Straße vorgesehen, wobei die nach Norden hin gelegene, nach Plänen von De Architectengroep bebaute und längst fertiggestellte Reihe noch den auch sonst auf Borneo und Sporenburg geltenden Spielregeln gefolgt ist. Die gegenüberliegende Reihe, deren Rückseite sich zum Binnenhafen hin wendet, stand demgegenüber zur “freien” Bebauung zur Verfügung. Insgesamt sind, bzw. waren an der Errichtung der sechzig Wohnungen 50 verschiedene Architekturbüros beteiligt – aufgrund des städtebaulichen Plans von West 8 ist jedoch trotz aller Experimentierfreude ein durchgehendes und einheitliches Straßenbild entstanden: Verbindlich festgeschrieben war neben der durchgehenden Tiefe von 16 Metern vor allem die maximale Höhe der Bebauung (9,5 Meter). Darüber sollte jedes Haus eine Etage von mindestens 3,50 Metern besitzen, unter anderem, um ein Aufsplitten der Häuser in zwei getrennte Appartements mit jeweils zwei Etagen zu verhindern.

Baugrundstücke sind in Amsterdam ziemlich rar und durch das Anlegen neuer Infrastruktur relativ teuer. Insofern folgt die Bebauung von Borneo und Sporenburg der Tradition der holländischen Stadt: Aus Gründen der Effizienz war man hier schon im 17. Jahrhundert zu langen, geradlinigen Straßen mit dichtstehenden, schmalen und tiefen Häusern gezwungen. Innerhalb dieser strengen städtebaulichen Grenzen waren die Auftraggeber jedoch ziemlich frei – das galt für den Amsterdamer Grachtengürtel und gilt jetzt für Borneo und Sporenburg – auch hier hat das Konzept von West 8 den beteiligten Bauherren und Architekten sämtliche Freiheiten gelassen: Bewegt sich schon die Breite der in der Scheepstimmermanstraat bebauten Parzellen willkürlich zwischen 4,20 und 6 Metern – zum Teil wurden auch zwei Baugrundstücke zusammengezogen, um mehr Freiheiten bei der Gestaltung des Grundrisses zu haben -, so zeigen die Fassaden der Häuser sämtliche nur denkbare Möglichkeiten der Gestaltung: Eher schlichte Entwürfe wechseln dabei ohne jegliche Vorwarnung mit radikal-utopischen oder traditionellen Auffassungen – Backstein trifft hier unvermittelt auf Beton oder Aluminium, auf skulpturartig verzinkten Stahl oder Stuck, auf Glasbausteine oder Corten-Stahl. Gleich daneben wechseln Lochfassaden mit Holzlamellen und treffen typische Amsterdamer Grachtenhausfassaden auf solche im italienischen Stil. Und zeigt sich die eine Front eher verschlossen, so ist die nächste eher offen und transparent oder bietet, wie der Entwurf von Herman Hertzberger, eine schmale Straße zum Wasser.

Die gleiche Vielfalt ist auch bei der Wohnraumaufteilung im Inneren zu beobachten: Eher verschachtelten Lösungen, wie bei den beiden Wohnungen des Rotterdamer Büros MVRDV, stehen dabei offene und flexible Varianten entgegen. Die Unterschiede betreffen jedoch nicht allein die Architektur, sondern auch den Gebrauch der einzelnen Wohnungen: In der Scheepstimmermanstraat wohnen neben ganz “gewöhnlichen” Familien mit Kindern vor allem Individualisten – Autosammler, Fotografen, Bergsteiger, Designer oder Künstler. So gibt es flexible Grundrisse mit Raum für die Einrichtung von Büros, hellen Künstlerateliers oder Restaurants, mit Hebebühnen für das Aufstellen antiker Autos oder mit integrierten Appartements für die Eltern; ganz so, wie die Bewohner des 21. Jahrhundert es sich wünschen, also mit großen Dachterrassen, gläsernen Erkern, Balkonen, Patios, Dachlichtern, Galerien, doppelgeschossigen Wintergärten, fünf Meter hohen Ateliers oder tiefen Gärten und mit rampenförmig in die Häuser integrierten Autostellplätzen.

Eine der kuriosesten Varianten ist das von Koen van Velsen für einen Bergsteiger geplante Haus auf Parzelle No. 120: Nach den Ideen des Bauherrn war ursprünglich geplant, einen freistehenden Turm in die viergeschossige Wohnung zu integrieren, der sich weit über die vorgeschriebenen 9,50 Meter hinaus in den Amsterdamer Himmel strecken sollte. Um keinen Präzedenzfall zu schaffen, musste die Idee des Bauherrn jedoch im Verlauf der Planung wieder verworfen werden. Statt dessen ragt jetzt ein in die vordere Hälfte der Wohnung gepflanzter Baum vom Kellergeschoss durch zwei Gitterroste hindurch bis hinauf ins Dachgeschoss, wo neun großzügige Dachlichter ein helles und offenes Ambiente in der extrem kühl gestalteten “Designer-Wohnung” schaffen.ähnlich hat Koen van Velsen auch die durch Lufträume und Gitterroste von den eigentlichen Wohnbereichen abgerückten und mit Schiefer verkleideten Fassaden ausgebildet – durch die vertikalen öffnungen hindurch ergibt sich eine traumhafte Aussicht auf das nach Süden hin angrenzende Hafenbecken.

Dass sich auf einem nur 5,1 Meter breiten Grundstück nicht nur Raum zum Wohnen, sondern auch Platz für zwei Autos schaffen lässt, beweist Architekt Rowin Petersma und schlägt dazu auf Parzelle No. 42 einen 4,5 Meter hohen Carport mit einem raffiniert ausgeklügelten mechanischen Parksystem vor. Trotz dieses Platzverlustes bietet sich den Bewohnern hinter den eher schroffen, mit Corten-Stahl-Elementen und vertikalen Fenstern ausgebildeten Fassaden eine großzügige und offene Innenraumaufteilung: Direkt hinter dem Carport befindet sich ein gläsernes Treppenhaus, so dass man von der Straße aus bis in die doppelgeschossige, durch ein Vide mit dem darüberliegenden Wohnzimmer verbunde Essküche einsehen kann. Im Halbgeschoss darunter befinden sich ein Gästeappartement, im Obergeschoss komplettieren zwei Schlafzimmer und eine zum Wasser hin ausgerichtete Dachterrasse das Raumprogramm des Hauses.

Um Nachbarn und Nachbarhäuser kennen zu lernen und möglichen Schwierigkeiten frühzeitig begegnen zu können, wurden schon zu Beginn des Projekts gemeinsame Workshops für die beteiligten Architekten und Bauherrn zu Themen wie Grundrissentwurf, Materialwahl, Fassaden-, und Dachgestaltung etc. eingerichtet. Zur Qualitätssicherung der auf Borneo und Sporenburg realisierten Entwürfe stand außerdem ein städtebauliches Beratungsteam (SBT) unter Leitung von Adriaan Geuze zur Verfügung. Städtebauliche Einheit war dabei ein ebenso entscheidendes Kriterium, wie Abwechslung und Einfallsreichtum. Und obgleich das Projekt erst im Laufe des Sommers endgültig fertiggestellt sein wird, kann sich das Ergebnis schon jetzt sehen lassen: Trotz der längeren Bauzeiten und höhere Baukosten – durch die individuell geschnittenen Wohnungen betragen die Kaufsummen je nach Eigenleistungsanteil zwischen 100.000 und 280.000 Euro – sind die Bewohner mit ihren “Traumhäusern” durchgehend zufrieden. Alles in allem ein wichtiges Lehrstück für 2000 individuelle Wohnungen, die die Stadt Amsterdam demnächst auf dem Steigereiland in IJburg plant.

© Text und Foto: Robert Uhde

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