“Bewegter Karpfen”

Created in 1999

Kategorie

  1. Architekturjournalismus

Created for leonardo-online

DSC02239-ausschnitt

Neuer Zollhof in Düsseldorf; Frank O. Gehry

Eigentlich sollte das Guggenheim Museum in Bilbao, dieser gigantisch verspielte Koloss aus funkelndem Titan, das letzte “Experiment” von Frank O. Gehry sein. “Minimalist” wolle er künftig werden, verkündete der inzwischen 70-jährige Architekt vollmundig. Leere Versprechungen! In Düsseldorf hat er soeben den “Neuen Zollhof” fertiggestellt.

Es hat sich einiges getan in Düsseldorf: Wo noch bis weit in die 90er-Jahre ein Verkehrsstrom von täglich etwa 50.000 Fahrzeugen das Rheinufer garnierte, ist vor fünf Jahren eine etwa zwei Kilometer lange Promenade entstanden, die einen Hauch von rheinischer Côte d’Azur versprüht. Die nimmermüde Autoschlange wühlt seitdem untertage, im neuerrichteten Rheinufertunnel, über dessen südlichem Eingangsschlund voller Stolz das neue, rund 75 Meter hohe und vollständig transparente “Stadttor” thront. Und als sei es damit noch nicht genug, entsteht ein paar hundert Meter weiter rheinaufwärts, im Bereich des ehemaligen Handelshafens, die neue Düsseldorfer Medienmeile. Als Antwort auf den Kölner “MediaPark” will sie ein kreatives Arbeitsfeld für Künstler, Filmgesellschaften, Galerien, Werbeagenturen und Kommunikations-Unternehmen bieten.

Das wohl spektakulärste Projekt der neuen Medienmeile ist der soeben fertiggestellte “Neue Zollhof” von Frank O. Gehry, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum wuchtigen Block von Ingenhoven, Overdiek & Kahlen, David Chipperfield und Steven Holl sowie dem “Kai-Center” von Wolfgang Döring befindet. Statt eines Großbaus hat der amerikanische Star-Architekt drei kleinere, individuelle Häuser konzipiert, alle drei verbunden durch die gleichen, kastenförmig aus der Fassade springenden Fenster. Im gewellten Edelstahl des Mittelbaus spiegeln sich die Nachbargebäude, chamois verputzt das eine, rot verklinkert das andere. Tanzende und springende Formen, die bei einer Neigung von bis zu 28° eine horizontale Abweichung der tragenden Stützen von bis zu 1,70 Meter je Geschoss erzeugen! Keine Frage, ein fulminanteres Signal für den Medienhafen hätte Düsseldorf kaum finden können – Corporate Identity aus Edelstahl, Beton und Ziegelstein.

Das 12 500 m2 große, plazaförmige Grundstück mit strahlenförmig in den Plattenbelag eingefassten Edelstahlstreifen orientiert sich an der Straßenführung und verlängert sie zu Gehwegen zwischen den Gebäuden, so dass der Sichtbezug zum Rhein hin erhalten bleibt. Im Zentrum des Ensembles liegt Haus B. Auf sieben Etagen bietet das vollständig aus Freiformflächen zusammengesetzte Gebäude eine Mietfläche von rund 4.600 m2. Die stark konkav und konvex gebogene und räumlich verformte Fassade und die sich schuppenartig spiegelnde Gestaltung erklärte Gehry sinnfällig als “abstrahierte Umsetzung eines Karpfens in seiner Bewegung.” Leichte Krümmungen und starke Wandneigungen ermöglichen dabei fortwährend neue Raumerlebnisse. Nebenan bietet das soeben fertiggestellte Haus A seinen Mietern auf zwölf Etagen eine Fläche von 8.000 m2. Wie Haus C, das 10.500 m2 Mietfläche bereitstellt, ist es aus einzelnen geometrischen Körpern zusammengesetzt, die auf verschiedener Höhe mit individuell geneigten Dächern abschließen.

Ursprünglich war Zaha Hadid als Architektin des “Neuen Zollhofes” vorgesehen. Der 1989 nach einem Gutachterverfahren ausgewählte Entwurf der iranischen Architektin war jedoch (angeblich aus Kostengründen) nicht zu realisieren, erst danach kam es zum Direktauftrag an Frank O. Gehry. Kennzeichnend für dessen Entwürfe sind ineinander verschobene und gedrehte geometrische Körper, die in ihrer Gesamtkomposition ein Bild erstarrter Bewegung ergeben. Die kühne Ummantelung seines biederen Wohnhauses im kalifornischen Santa Monica mit Billigmaterialien wie Maschendraht, Asphalt, Sperrholz, Wellblech und Rohrgestängen brachte ihm neben einem Sturm der Entrüstung bei den Nachbarn (zweimal schoss man den Gehrys in die Fensterscheiben!) vor allem internationale Anerkennung. Spätestens seit 1988, nach der Ausstellung “Dekonstruktivistische Architektur” im Museum of Modern Art in New York, wurde der Bau sogar als Ikone des neuen Bauens gefeiert. Im darauffolgenden Jahr erhielt Gehry für sein Werk den als Nobelpreis der Architektur geltenden Pritzker-Preis. Zur gleichen Zeit gelang Gehry mit dem Bau des Vitra Design Museums in Weil am Rhein auch der Sprung nach Europa, wo er in Prag wenige Jahre später das als “Fred und Ginger” bekannte Rasin-Gebäude errichtete – die Bezugnahme des “Neuen Zollhofs” ist dabei unübersehbar.

Gehrys Entwürfe entstehen nicht am Zeichentisch, sondern am Modell. Ausgehend von einer Grundidee gestaltet er in vielen Arbeitsschritten Gebäudevolumen und -kompositionen, zunächst auf Papier und mit Holzmodellen unterschiedlichen Maßstabs. Nach und nach entwickelt sich dabei die endgültige Gebäudeform. Vor Bilbao war Gehry eigentlich ein Gegner des rechnergestützten Konstruierens. Er befürchtete, dass der Einsatz des Computers eine Reduzierung auf langweilige symmetrische Formen und eine einfache euklidische Geometrie bewirken würde. Erst die sich eröffnenden Möglichkeiten der ursprünglich für die französische Luftfahrtindustrie entwickelten Software CATIA überzeugten den Architekten schließlich. CATIA vereinigt verschiedene Software-Pakete. Darunter befindet sich auch ein Modellierer für Oberflächen und Räume in der Architektur und ein Tool zur Festlegung der Arbeitsschritte für Konstruktion und Fertigung. Die hochentwickelte 3D-Modellierapplikation von IBM ist dabei in der Lage, Freiformenflächen zu erfassen und in räumliche CAD-Modelle umzusetzen und ermöglicht so fast spielerische Variationen bei geringem Aufwand. Dadurch folgte CATIA Gehrys Entwurfsmethoden und zwang ihn nicht zum Umdenken.

Mit CATIA konnte Frank O. Gehry seinen Entwurf wie gewohnt beginnen: Er experimentierte mit Papier- und Holzmodellen, die anschließend eingescannt wurden und auf dem Computer für die weitere Konstruktionsunterstützung und die Ermittlung der Fertigungsdaten weiterverarbeitet werden konnten. Dazu benutzte Gehry einen elektronischen Präzisionsstift, der eigentlich für Neurochirugen zur Abbildung von Schädelkonturen entwickelt worden ist. Mit diesem 3D-Handscanner tastete Gehry seine Holzmodelle ab und übersetzte sie anschließend in Zahlenwerte und Computermodelle. Damit konnte jeder Punkt auf der gekrümmten Modelloberfläche digital abgebildet werden.

CATIA operiert mit polynominalen Gleichungen statt mit Polygonen und kann daher wesentlich einfacher Oberflächen als Gleichungen definieren. So lassen sich auch die extremsten Formen, die Asymmetrien seines biomorphen, exaltierten Stils, passgenau herstellen und montieren, ganz gleich, ob aus Ziegelstein oder aus Edelstahl. Nur mit Hilfe eines solchen hochentwickelten Volumen-Modellierwerkzeuges war es überhaupt möglich, die verschiedenen Teile für die Außenhaut zu entwerfen und fertigzustellen.

Die immense Ansammlung dreidimensionaler Daten des in CATIA erstellten Computermodells definierte die kompletten Gebäudehüllen des Entwurfes und diente anschließend auch dem ausführenden Büro BM+P als Arbeitsgrundlage, das die aus dem CATIA-Modell entnommenen Schnitte als Outline für die weitere Werkplanung verwendete. Noch während der Entwicklungsphase des Gebäudes zog BM+P das ausführende Generalunternehmen, die Philipp Holzmann AG, zur technischen Beratung hinzu. Dabei wurde eine Machbarkeitsstudie erstellt, in der untersucht wurde, ob und wie der Entwurf überhaupt realisiert werden könnte. Gemeinsam wurde danach für jedes der drei Häuser die wirtschaftlichste Form zur Herstellung der Fassaden entwickelt.

Für die Rohbaufassade von Haus A wurden die Schalpläne der komplizierten Fassaden-Fertigteile ausgehend vom CATIA-Modell dreidimensional im Computer erstellt und die Fertigteile anschließend konventionell im Werk gefertigt. Eine noch größere Herausforderung für das ausführende Unternehmen stellten jedoch die stark gekrümmten Freiformflächen der Fassade von Haus B dar: Im Gegensatz zu bisherigen Gehry-Bauten, die trotz ihrer komplexen Geometrien immer durch Radien, Hyperbeln und ähnliche Funktionen definiert werden konnten, ist die Geometrie von Haus B durch reine Freiformflächen bestimmt. Bauphysikalische Gründe ließen eine Ausführung der Fassade als gekrümmte Stahlkonstruktion nicht zu, deshalb blieb nur die Möglichkeit einer Ausführung in Massivbauweise.

Das inzwischen patentierte Verfahren sah vor, die umfangreichen Computerdaten in einzelne, auf jeweils geschosshohe Scheiben bezogene Dateien aufzuteilen. Die anschließende Konvertierung der Daten ermöglichte eine Bearbeitung mit den Software-Programmen acad graph und mechanical desktop. Jede Scheibe konnte so nach statischen und konstruktiven Gesichtspunkten in 18 cm dicke, nichttragende Fertigteile aufgeteilt werden. Die einzelnen Fertigteile wurden danach in die CATIA-Software rückgeführt und auf ihre Passgenauigkeit überprüft, bevor sie zur Produktion freigegeben wurden. Die Datenbank ersetzte dabei den Schalungsplan.

Entsprechend den Computerdaten musste für jedes Fertigteil ein individuelles Programm zur Steuerung einer CNC-Fräse geschrieben werden. Je nach Geometrie des Fertigteils konnte so aus großdimensionierten Styroporblöcken die Schalform für das jeweilige Element computergesteuert gefräst werden. Die einzelnen Formen wurden anschließend in ein Fertigteilwerk transportiert, nach einem Bewehrungsplan bewehrt und ausbetoniert. Auf diese Weise entstanden allein für Haus B insgesamt 355 Unikate!

Die Mühen haben sich gelohnt. Nachdem Haus B und Haus C bereits im Dezember, bzw. im Februar fertiggestellt wurden, konnten auch die Arbeiten an Haus A soeben abgeschlossen werden. Und um nicht nur vor Ort, sondern auch online präsent zu sein, entwickelten Projektentwickler und Generalunternehmer im letzten Jahr eine gemeinsame Homepage. Unter www.zollhof.de lassen sich die neuesten Informationen abrufen. Über die Hälfte der stetig steigenden Zugriffe stammen dabei übrigens aus den USA. Die Fangemeinde von Frank O. Gehry ist also bestens informiert.

© Text und Foto: Robert Uhde

Nächstes Projekt