“Ein Fenster zum Wald”

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  1. Architekturjournalismus

Die „Villa Aurora Borealis“ von Paul de Ruiter

Als der Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter mit dem Bau einer Seniorenvilla für ein älteres Ehepaar in der niederländischen Gemeinde Moergestel bei ‘s Hertogenbosch beauftragt wurde, liess er sich durch Le Corbusiers „la petite maison“ am Genfer See inspirieren. Eine kleine Hommage.

Fünfundsiebzig Jahre zurück, 1924. Le Corbusiers legendäre Villa La Roche in Paris war gerade bezogen, seine noch heute so mitreissende Aufsatzsammlung „Vers une architecture“ soeben erschienen, da machte sich der damals 37jährige Architekt daran, seinen Eltern ein einfaches, weisses Haus in Corseaux-Vevey am Ufer des Genfer Sees zu entwerfen. „Unser Haus ist einfach, so einfach wie sein Architekt“, sollte seine Mutter später über die kleine Villa sagen. „Mein Sohn ist gradlinig und ehrlich, schroff und herb, doch grosszügig. Er hat ein weites Herz, er liebt das Leben. So ist auch unser Haus. Es liebt die Sonne, das Licht, den See und die Berge…“

Der Vater Le Corbusiers war nur noch ein knappes Jahr in „la petite maison“ zuhause, er verstarb schon 1925. Charlotte-Amélie Jeanneret-Perret, seine Mutter, sollte anschliessend jedoch noch 35 Jahre hier verbringen, bis zu ihrem Tod im stolzen Alter von 100 Jahren. Kurz darauf wurde die Villa vom Regierungsrat des Kantons zum Denkmalpflegeobjekt ernannt. Eine späte Ehrung für die „längliche Kiste auf der Erde“, wie Le Corbusier sein Haus zu nennen pflegte. Schliesslich galt noch wenige Jahre zuvor, dass kein Neubau in der Umgebung diesem „Haus des Schwachsinns“ auch nur im Entferntesten hätte ähneln dürfen!

Als der Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter (Jahrgang 1962) vor einigen Jahren mit dem Entwurf einer Villa für ein etwa sechzigjähriges Ehepaar betreut wurde, kam ihm schnell der Gedanke an das Haus von Le Corbusier. Keine originalgetreue Abbildung freilich, die ihm da durch den Kopf ging, kein einfaches Zitat, sondern eine zeitgemässe und freie Übersetzung, die das Vorbild Le Corbusiers eher als assoziativen Hintergrund denn als konkrete Handlungsvorgabe begreifen wollte. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, schliesslich diente Le Corbusiers Architektur, namentlich seine späteren Wohneinheiten in Marseille, Briey-en-Forêt, Nantes-Rezé oder Firminy, jahrzehntelang nur allzu oft eher als Alibi für menschenfeindliche Wohnfabriken, denn als Vorlage für eine anständige Behausung. Die Villa am Genfer See ist da zweifellos weniger anfällig, sie verweigert sich schon aufgrund ihres eher bescheidenen Volumens gegen derartige Interpretationen.

Schon die Kulisse der „Villa Aurora Borealis“, dem „Licht des Nordens“ hätte kaum besser gewählt werden können: Der kompakte und fast minimalistische flache Bau aus Glas, Backstein und Zedernholz fügt sich überaus sensibel in die waldreiche und fast schon hügelige Landschaft Brabants ein – eine Gegend also, die mit den Augen eines Niederländers betrachtet geradezu exotische Qualitäten haben muss, denn ausserhalb von Brabant existieren kaum grössere zusammenhängende Waldgebiete. Dem Grundgedanken folgend, dass die Bewohner unabhängig und selbstbestimmt bis ins hohe Alter in der Villa leben können sollten, hat Paul de Ruiter den 230 m² grossen Grundriss des Hauses in zwei rechteckige, ineinander gedrehte Baukörper aufgeteilt. Beide Bereiche sind so angelegt, dass sie sich jederzeit zu zwei getrennten und eigenständigen Wohnungen umstrukturieren lassen. Bei einem eventuellen Pflegebedarf können also etwa die Kinder des Ehepaares oder andere Personen mit in die Villa einziehen.

Um die Möglichkeit der Aufteilung in zwei getrennte Wohnungen auch nach aussen sichtbar werden zu lassen, haben beide Volumen eine eigene Materialsprache und Detaillierung erhalten: Nach Norden hin, wo Le Corbusier die Villa seiner Eltern in futuristische Blechschindeln hüllte, schliesst sich die Villa in Brabant durch anthrazitfarbenen Backstein und ein mit Kupfer beschichtetes Schrägdach von der Aussenwelt ab. Hier befinden sich der Gästebereich mit eigenem Badezimmer und ein Arbeitszimmer. Der nach Süden zum Wald hin sich anschliessende „eigentliche“ Wohnbereich mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und grossem Badezimmer ist dagegen in rötlichem Zedernholz gehalten. Für ausreichend Licht im langgestreckten Flur zwischen beiden Baukörpern sorgt ein 16 Meter langes Oberlicht, das im Höhenunterschied zwischen dem flach gehaltenen Wohnbereich und dem schräg ausgebildeten vorderen Bereich angeordnet ist.

Nach Süden schafft viel Glas offene und helle Räume in der an sich schattenreichen Waldumgebung. Vom Wohnzimmer aus können die Bewohner den Ausblick auf die umgebenden Bäume sogar aus einem vier Meter breiten Fenstervorsprung aus rahmenlosem, verleimten Isolierglas geniessen – eine raffinierte Spezialanfertigung übrigens, die für ein Höchstmass an Transparenz und Abstraktion sorgt und in diesen Ausmassen in den Niederlanden bislang noch nicht realisiert worden ist. Vom einen Schritt weiter gelegenen Garten aus wird dann ein weiteres Detail sichtbar: Hier hat Paul de Ruiter den lokalen Höhenunterschied des Grundstückes genutzt, um einen Teil des in Holz gehaltenen Baukörpers spielerisch über den Boden schweben zu lassen. Gerade so, als ob das Grundstück eben dieses Haus erwartet hätte!

Um den Bewohnern im Alter ein möglichst barrierefreies Wohnen zu ermöglichen, weisen die einzelnen Wohnräume der Villa keine Höhenunterschiede und also keine Treppen auf und gehen nach den kürzesten Laufwegen fliessend ineinander über. Sämtliche Türen wurden dabei so verbreitert (und aus proportionalen Gründen auch erhöht), dass die Bewohner eventuell auch mit dem Rollstuhl durch sie hindurchfahren können. Wenn die mattgläsernen Türen offenstehen, entsteht eine 15 Meter lange Sichtachse, die über die gesamte Länge des Hauses, vom Badezimmer zum äusseren Ende des Wohnzimmers reicht. Im Zentrum befindet sich dabei das Schlafzimmer, „denn auch mit eventuellen körperlichen Beschwerden oder einer eventuellen Bettlägerigkeit sollen sich die Bewohner nicht an den Rand des Hauses abgeschoben fühlen“, meint der Architekt.

Paul de Ruiter, der nach seinem Studium an der TU in Delft zwischen 1991 und 1992 im Amsterdamer Büro van Berkel & Bos gearbeitet hat, sucht in seiner Arbeit nach einem ästhetisch wie energetisch sinnvollen Zusammenspiel von Gebäude, Fassade und Umraum. „Es imponiert mir, wie Jean Nouvel moderne Technologie als selbstverständlichen Teil von Kultur betrachtet“, meint er und spricht etwas später auch den Minimal-Künstler Donald Judd und dessen Verständnis von Raum und Licht an. Für das soeben fertiggestellte Mercator-1-Gebäude, das erste von insgesamt sechs Gebäuden, die Paul de Ruiter für den neuen Wissenschafts- und Technologiepark der Universität Nijmegen plant, hat der Architekt eine völlig neuartige zweischalige Fassade aus Glas und transparentem Stoff entwickelt, deren abstrakte Rahmeneinteilung in der Tat interessante Bezüge zu Judd erkennen lässt. Aber Paul de Ruiter denkt schon weiter: „Mercator 6 soll dann ausschliesslich mit Wind- und Sonnenenergie auskommen – Gebäude können auf diese Weise zu Energieproduzenten umgestaltet werden“, blickt er hoffnungsvoll in die Zukunft.

Neben der Villa „Aurora Borealis“ und dem Mercator-1-Gebäude hat Paul de Ruiter in den vergangenen vier Jahren die Orchard Business Area in Wageningen, den ebenfalls in Nijmegen gelegenen Houtlaan Technology & Science Park und das Unternehmerzentrum Simon Stevin in Arnheim fertiggestellt – eine beachtliche Referenzliste für den erst 36jährigen Architekten, in den Niederlanden aber kein Einzelfall. Wo gerade in Deutschland immer wieder über die fast aussichtslose Lage von Berufseinsteigern geklagt wird und Architekten noch bis Anfang vierzig als „Jungstars“ gelten, da sorgen in den Niederlanden neben kurzen Studienzeiten und grosszügigen Bauvorschriften vor allem der aktuelle Wirtschaftsboom und anhaltend günstige Baukosten dafür, dass gegenwärtig eine beachtliche Zahl junger Büros die Architektur-Szene belebt. Ein Klima, wie geschaffen für neue und mutige Ideen, die in den Niederlanden zudem seit jeher auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung treffen. Auch Paul de Ruiter muss kaum Zeit verwenden, sich Gedanken über seine Zukunft zu machen: Mit dem Mercator-Projekt in Nijmegen wird er die nächsten acht Jahre beschäftigt sein, noch in diesem Jahr wird er ausserdem drei weitere altengerechte Villen bauen. „Es gibt schon heute viel mehr ältere Menschen als noch vor einigen Jahrzehnten“, meint der Architekt. „Und natürlich muss man sich auch als Architekt darüber seine Gedanken machen.“ Was ihn stört, ist dass der Bautypus trotz dieser Entwicklung noch immer mit einem negativen Image behaftet ist, „dabei sind ältere Menschen heute oft erstaunlich aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen und ausserdem viel aktiver und mobiler als früher“, meint er.

Die Entwurfsarbeiten zur ersten der drei Villen sind so gut wie abgeschlossen, im Zentrum des Hauses hat Paul de Ruiter ein kleines Atrium mit einem beheizten Schwimmbecken vorgesehen. Noch nicht entschieden hat er dagegen über die Dachdeckung der Villa. Gegenwärtig beabsichtigt er, erneut Kupfer zu verwenden. „Im Verlauf von etwa 20 Jahren wechselt das Dach dann seine Farbe, das anfängliche Dunkelgrau oxydiert zunehmend und erhält dabei nach und nach seine typische leuchtend-grüne Patina.“ Ein schönes Bild des Alterns, die architektonische Pflanzung eines Lebensbaumes gewissermassen. Und keine Frage, auch die Mutter von Le Corbusier, die gute alte Charlotte-Amélie Jeanneret-Perret, hätte wohl ihre helle Freude daran gehabt wenn das Dach ihres Hauses an ihrem hundertsten Geburtstag bis auf ein Haar der Farbe des Sees geglichen hätte.

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