“Futuristischer Brückenschlag”

Created for architektur.aktuell in 2009

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  1. Architekturjournalismus

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Brücke von NIO architecten in Vrouwenakker (NL)

In der kleinen Gemeinde Vrouwenakker, rund 20 Kilometer südlich vom Amsterdam, wurde vor kurzem eine neue Brücke über den Fluss Amstel als neue Verbindung zwischen den beiden Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland fertiggestellt. Das durch die Rotterdamer NIO architecten in Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro DHV realisierte Bauwerk schafft mit seiner ungewöhnlichen Formgebung einen markanten Blickfang inmitten in der flachen Polderlandschaft. Im hochgeklappten Zustand erinnert es dabei schon von weitem an die ausufernden Gliedmaßen eines Insekts.

Die meisten Brücken werden ohne jede gestalterische Inspiration als reine Ingenieurdienstleistungen ausgeführt. Lediglich bei wenigen größeren Prestige-Objekten besteht die Chance, dass zusätzliche finanzielle Mittel für eine nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch durchdachte Lösung bereitgestellt werden. Um so erfreulicher daher, wenn auch bei der Planung einer relativ kleinen Brücke auf die Leistungen eines Architekturbüros zurückgegriffen wird: So wie bei der jüngst fertiggestellten Brücke des Rotterdamer Architekten Maurice Nio im Dorf Vrouwenakker südlich von Amsterdam.

Wer in der 300-Seelen-Gemeinde entlang der Landstraße N231 zwischen Alphen aan den Rhijn und Amstelveen den kleinen Fluss Amstel durchquert, der wird sich erstaunt die Augen reiben. Denn statt über die alte, inzwischen nicht mehr zeitgemäße Hubbrücke erfolgt die Passage inzwischen über eine futuristische High-Tech-Brücke mit spektakulärer Formgebung. „Bei der Gestaltung des Bauwerks haben wir uns durch die Gliedmaßen von Heuschrecken oder die Silhouetten von Jedi-Rittern aus dem Star-Wars-Universum inspirieren lassen“, beschreibt Architekt Maurice Nio die ungewöhnliche Planungsstrategie seines Büros. „Gleichzeitig korrespondiert die Gestalt der Brücke mit den unterschiedlichen Formen der zahlreichen Ausflugsdampfer, die hier in regelmäßigen Abschnitten den Fluss entlang fahren.“

Verbindung zwischen Noord- und Zuid-Holland

Die Amstel ist ein rund 30 Kilometer langer, kanalisierter Fluss, der in Amsterdam in den IJ-Strom mündet. Sein südlicher Abschnitt markiert den natürlichen Grenzverlauf zwischen den beiden niederländischen Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland. Bislang wurden beide Provinzen in diesem Bereich durch eine 1930 errichtete Zugbrücke miteinander verbunden, die aber längst nicht mehr den Anforderungen des heutigen Verkehrs entsprach und aufgrund baulicher Mängel bereits seit längerem nicht mehr von Lastkraftwagen genutzt werden durfte. Als weiteren Nachteil bot die vorhandene Brücke lediglich eine Spur für Fußgänger und Radfahrer. Gleichzeitig mussten die Schiffe aufgrund der schrägwinkligen Position der Brücke im Fluss jedes Mal ihren Kurs korrigieren, um das Bauwerk zu passieren.

Zur Verbesserung der Verkehrssituation in der gesamten Region hatten die beiden Provinzen bereits seit längerem beschlossen, im Zuge des Ausbaus der N231 auch die alte Brücke abzubrechen und durch ein neues, deutlich breiteres Bauwerk mit einer zusätzlichen Radfahrerspur zu ersetzen. Um eine hochwertige Lösung mit Bezug zur Landschaft zu erhalten, beauftragte die Provinz Noord-Holland als Bauherr schließlich die Rotterdamer Nio Architecten mit der Planung und Umsetzung des Projekts. Mit ihren futuristischen Projekten an der Grenze der Schwerkraft gehören die Planer seit Jahren zu den innovativsten Architekturbüros in den Niederlanden: In der Nähe von Amsterdam realisierten die Architekten 2003 eine organisch geformte Bushaltestelle, die wie ein Surfbrett vollständig aus Hartschaum und Polyester errichtet wurde und die mit einer Länge von rund 50 Metern seinerzeit das größte komplett aus Kunststoff bestehende Gebäude der Welt war. Und in Hilversum hatte das Büro kurz zuvor eine Lärmschutzwand geschaffen, aus der zwölf Appartements wie langgestreckte Wohnwagen herausragen.

Eine ähnlich eigenwillige Lösung zeigt auch die in enger Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro DHV aus Amersfoort errichtete neue Brücke über die Amstel. Wie ihr Vorgänger wurde die Brücke als Zugbrücke realisiert, um so auch weiterhin eine unbegrenzte Durchfahrtshöhe zu ermöglichen. Die 17,8 Meter breite, 22,3 Meter lange und 72,9 Tonnen schwere Brückentafel ist dabei beinahe doppelt so breit wie die der alten Brücke. Neben der sechs Meter breiten Fahrbahntrasse für den PKW-Verkehr konnten so auch ein zweispuriger Radweg im westlichen Bereich der Brückentafel und ein Fußweg in gegenüberliegender Richtung integriert werden. Durch die beiden getrennten Radtrassen brauchen die Radfahrer bei Gegenverkehr nicht mehr wie vorher auf die Fahrbahn auszuweichen.

Markante Gestaltung

Das Öffnen und Schließen der Brückentafel erfolgt über eine 15 Meter breite, 15,6 Meter lange und 84,6 Tonnen schwere Hebearm-Konstruktion. Mit ihrer charakteristischen biomorphen Formgebung schafft die elegant ausbalancierte Rute einen markanten Blickfang am nördlichen Amstelufer. Die Konstruktion besteht aus zwei schmal zulaufenden, am südlichen Ende deutlich nach oben abgeknickten Lastarmen, die über kräftige Stahlseile mit der Brückentafel verbunden sind. Nördlich der beiden Drehpunkte gehen die Lastarme fließend in eine organisch abgerundete Rahmenkonstruktion als Kraftarm über. Als Auflager der Rute dienen zwei mächtige Stahlträger, die die Lasten und Drehmomente der Brücke in die Stahlbetonfundamente am nördlichen Amstel-Ufer weiterleiten.

Beim Öffnen der Brücke wird der Kraftarm über einen Elektromotor nach unten ausgeschwenkt und die Brückentafel langsam bis zu einem Winkel von 87 Grad nach oben angehoben. Beim Schließen der Brückentafel erfolgt der Mechanismus in umgekehrter Richtung. Eine moderne Hydraulik sorgt dabei dafür, dass sich die Brücke innerhalb von jeweils 60 Sekunden ferngesteuert öffnen bzw. schließen lässt, wobei die Zeit zur Ver- bzw. Entriegelung bereits eingerechnet ist. Eine weitere Verbesserung der Verkehrsführung schafft die neue Streckenführung der N231 nördlich des Flusses und die damit mögliche 90-Grad-Ausrichtung der Brücke zum Ufer. „So kann nun endlich auch der Schiffsverkehr die Brücke ohne Kurskorrektur passieren“, so Maurice Nio.

Neben dieser Änderung der Streckenführung und der angrenzenden Infrastruktur realisierte das Büro DHV auch eine komplett neue Uferbefestigung. Zur Wartung und Reparatur der Brücke wurde im Bereich der Stahlbetonfundamente ein rund drei Meter hoher wasserdichter Brückenkeller errichtet, der die Steuerungsanlagen und sanitäre Anlagen aufnimmt und gleichzeitig als Arbeitsraum zur Verfügung steht.

Zusätzlich hervorgehoben wird die markante Formgebung der Brücke durch eine bewusst dunkle, grün-bläuliche Farbgebung. „Die alte Brücke war wie die meisten Brücken weiß“, so Maurice Nio. „Wahrscheinlich, weil wir Weiß als eine neutrale Farbe wahrnehmen, die nicht weiter auffällt. Das ist allerdings alles eine Frage der Perspektive, in China zum Beispiel gilt Weiß als Farbe des Todes. Wir haben uns stattdessen dazu entschlossen, die Brücke dunkel zu gestalten. Als geheimnisvolle und gleichzeitig elegante Figur, deren Konturen sich am Abend ganz langsam in der Dämmerung auflösen.“

© Text: Robert Uhde

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