“Futuristischer Parasit”

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  1. Architekturjournalismus

Bürogebäude von za bor architects in Moskau

Ein eingeklemmtes Ufo? Ein avantgardistisches Kunstobjekt mit polygoner Form? Das vom Büro za bor architects für eine Baulücke in Moskau vorgesehene „Parasite office“ überzeugt nicht nur durch seine radikale Ästhetik, es schafft auch ein überzeugendes Beispiel für den Umgang mit knappem Büro- und Wohnraum.

Mit rund 12 Millionen Einwohnern ist Moskau vor Istanbul und London die größte Stadt Europas. Und da hier sämtliche Finanzströme des Landes zusammenlaufen, zählt die russische Metropole inzwischen gleichzeitig auch zu den teuersten Städten zur Welt. Entsprechend begehrt sind Wohn- und Büroflächen; die Quadratmeterpreise treibt es seit Jahren unaufhaltsam in die Höhe. Leidtragende sind insbesondere kleinere Unternehmen sowie Agenturen, Kunstgalerien, die sich die hohen Mieten in der Regel kaum leisten können.

Eine vergleichsweise radikale Strategie im Umgang mit dem knapper werdenden städtischen Wohn- und Arbeitsraum hat deshalb das vor Ort ansässige Büro za bor architects entwickelt. Bei der letztjährigen Architekturbiennale „АRCH Moscow“ stellten die Planer einen dreigeschossigen, rund 15 Meter hohen Büroneubau vor, der sich flexibel und in beliebiger Höhe in unterschiedlichste städtische Baulücken „einklemmen“ lässt und so letztlich keinen Baugrund besetzt. Hinter der polygon geformten Außenhülle aus Glas und transluzentem Polycarbonat steht auf drei Ebenen eine Nutzfläche von 230 Quadratmetern zur Verfügung.

Als Standort für ihren Entwurf haben die jungen Architekten die 5. Kozhukhovskaya Straße im südöstlichen Zentrum von Moskau vorgesehen: „Die Straße ist eine gewöhnliche Wohnadresse mit teilweise achtgeschossigen Wohn- und Geschäftsblocks aus sozialistischen Zeiten, die immer wieder durch klaffende Baulücken unterbrochen werden“, beschreibt Architekt Arseniy Borisenko den städtebaulichen Kontext. „In einer dieser Baulücken soll unser Parasite Office rund 3,50 Meter über der Erde zwischen die blinden Stirnfassaden zweier Altbauten eingehängt werden.“ Inmitten der monotonen, und aufdringlich mit Werbung gestalteten Erdgeschosszeilen würden die Passanten dann plötzlich und völlig unvermittelt auf ein Stück futuristischer Avantgarde-Architektur treffen. „Der endgültige Standort steht aber letztlich noch nicht genau fest“, erklärt Borisenkos Kollege Vadim Costyrin. „Das Grundstück in der 5. Kozhukhovskaya Straße haben wir gewählt, um das Prinzip unseres Entwurfes als Lückenbebauung deutlich zu machen. Wir hoffen, im kommenden Jahr mit der Umsetzung beginnen zu können.“

Parasiten in der Stadt

Der Begriff „Parasit“ stammt aus der Biologie und bezeichnet dort einen Organismus, der an oder in einem anderen Organismus lebt und von diesem Wirt seine Nahrung oder andere Leistungen bezieht. 1994 hat der niederländische Architekt Kas Oosterhuis den Begriff auch auf spezielle Gebäudeerweiterungen übertragen, die sich auf bestehenden Dächern „einnisten“ und dabei auf die Infrastruktur des vorhandenen Gebäudes zurückgreifen. Das grundlegende Prinzip ist zwar schon deutlich älter, doch anders als frühere Nachverdichtungen zeichnen sich zeitgenössische Projekte wie die Rotterdamer Wohnaufstockung „Parasite Las Palmas“ von Korteknie + Stuhlmacher oder die Hamburger Elbphilharmonie durch Herzog & de Meuron vor allem durch ihre betont moderne Architektur aus.

Ein weiteres Beispiel für eine solche „parasitäre Erweiterung“ stellt jetzt auch das Parasite Office in Moskau dar. Auch hier müssen Wasser, Strom und Gas vom angrenzenden „Wirt“ bezogen werden. Doch anders als die meisten anderen „Parasiten“ haben za bor architects für ihren Entwurf keine Dachfläche, sondern eine Baulücke als Standort ausgewählt. Das Projekt bietet deshalb nicht nur ein weltweit an unterschiedlichsten Standorten einsetzbares Modell zur Schaffung von zusätzlichem Raum in der Stadt, sondern es schafft auch eine intelligente Lösung zur kreativen Schließung von unansehnlichen Baulücken, ohne dabei den darunter liegenden Raum zu verbauen oder den Zugang zum Innenhof, zu Parkplätzen oder zur angrenzenden Bebauung zu versperren.

Spektakuläre Außenhülle

Der Entwurf überzeugt aber nicht nur konzeptuell, sondern auch durch seine ungewöhnliche gestaltete Außenhülle. Im Zentrum steht dabei die polygon geformte Straßenansicht, die mit ihren asymmetrischen Fensterflächen je nach Perspektive unterschiedlichste Blicke zwischen Innen und Außen zulässt. Die ungewöhnliche Konstruktion des Parasiten besteht aus einem selbst tragenden Flächentragwerk aus Stahl, dessen einzelne Felder mit unterschiedlich großen und unterschiedlich geformten Elementen aus halbtransluzentem Polycarbonat verkleidet werden. „Eine zusätzlicher Wärmeschutz für den Innenraum ist in diesem Fall nicht nötig“, so Vadim Costyrin. „Denn die 20 Millimeter dicken Polycarbonat-Elemente fungieren gleichzeitig auch als effektive Dämmung.“ Die Befestigung des ungewöhnlichen Baukörpers erfolgt über massive Stahlanker auf Höhe der ersten Obergeschosses der beiden Nachbargebäude.

Besondere Perspektiven bietet das Parasite Office bei Dunkelheit, wenn die unregelmäßigen Fenster und die matt schimmernde Hülle aus Polycarbonat den Neubau in ein geheimnisvoll illuminiertes Lichtobjekt verwandeln. „Die rückseitig gelegene Fassade zum Hof haben wir abweichend als einfache senkrechte Fläche mit großflächiger Verglasung entwickelt, um gleichzeitig möglichst viel Tageslichteinfall im Innenraum zu ermöglichen“, ergänzt Architekt Arseniy Borisenko.

Die Erschließung des Parasiten erfolgt wahlweise über eine extrem schmale Stiege entlang der links gelegenen Altbaufassade oder alternativ über eine Verbindungstür im Nachbargebäude, von wo aus der Weg direkt auf die Dachebene, und von dort über Treppen ins Gebäudeinnere führt. Dort angekommen, erwartet die Besucher dann ein überraschend großer und luftiger Innenraum mit asymmetrisch nach außen, bzw. innen gefalteten Außenwänden und mit vorgefertigten Deckenelementen als Trennung zwischen den drei Ebenen. Zusätzlich steht eine begehbare Dachterrasse zur Verfügung. Klassische Beamte hätten in einem solchen Ambiente sicherlich Anpassungsprobleme – „aber für uns ist der Parasit der ideale Standort, um unsere Entwürfe realisieren zu können“, so Vadim Costyrin.

© Text: Robert Uhde

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