„Brasília – Hauptstadt der Hoffnung“

Created for a-face - Kundenmagazin von alsecco in 2014

Kategorie

  1. Architekturjournalismus
  2. Kundenmagazin

Wenn ab dem 12. Juni die Fußball-WM in Brasilien angepfiffen wird, dann wird dabei auch die Hauptstadt Brasília im Fokus stehen. Die komplett am Reißbrett entwickwelte Stadt wurde seit 1957 in nur drei Jahren als städtebauliche und soziale Utopie aus dem Boden gestampft. Mit ihren plastischen Bauten von Oscar Niemeyer zählt sie bis heute zu den bedeutendsten Architektur-Ikonen der Moderne.

Brasília, das war zuallererst eine Idee, eine Skizze. Wer sich der am 21. April 1960 nach drei Jahren Bauzeit feierlich eingeweihten Stadt nähern will, der fängt deshalb am besten mit ihrer komplett am Reißbrett entstandenen Grundrissstruktur an. Wer will, der kann dann auf den ersten die Ähnlichkeit mit der Aufsicht auf ein Flugzeug erkennen. Alternativ kann man die grundlegenden städtebaulichen Strukturen aber auch mathematisch anhand der Multiplikation 90 x 4 x 11 x 50 darstellen: Ausgehend von 90 Wohnquartieren („Superquadras“), die sich dreibündig in einem geschwungenen Flügel aneinanderreihen und dabei jeweils vier mal elf Wohnblöcke à 50 Einheiten zur Verfügung stellen, errechnet sich dann schnell die Anzahl von 198.000 Wohnungen für rund 500.000 Bewohner.

An seinem Scheitelpunkt, also genau dort, wo bis zum Baustart 1957 lediglich zwei staubige Feldwege aufeinander trafen, werden die von einer Autobahn durchzogenen Flügel durch die orthogonal verlaufende „Straße der Ministerien“ gekreuzt. Am westlichen Ende dieser monumentalen Achse liegen der Bahnhof, die Kaserne, der Friedhof und das soeben neu errichtete Stadion. In gegenüber liegender Richtung gelangt man zu den verschiedenen Repräsentationsbauten Brasiliás und erreicht schließlich den zeitgleich mit der Stadt errichteten Paranoá-Stausee mit seiner weit verzweigten Uferlinie.

Das ist eigentlich schon fast alles, der bis heute kaum veränderte, seit 1987 zum Weltkulturerbe der UNESCO zählende „Plano Piloto“ von Brasília ist damit im Wesentlichen bereits beschrieben. Die weiteren Wohnbezirke der heute rund 2,5 Millionen Einwohner zählenden Stadt sind erst später hinzugekommen.

Einzigartiger Gründungsmythos

Abgesehen von dieser radikal modernen Grundrissstruktur ist es vor allem die weltweit einzigartige Gründungsgeschichte, die bis heute den Mythos von Brasília begründet. An dem gewaltigen Vorhaben, mitten im brasilianischen Hochland mit 50.000 Bauarbeitern innerhalb kürzester Zeit eine neue moderne Hauptstadt zu errichten, war damals die ganze Nation beteiligt. Nichts mehr sollte hier an die koloniale Vergangenheit des Landes erinnern, nichts an die katastrophalen Wohnzustände in den Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo, wo seit der Jahrhundertwende immer mehr Menschen in chaotisch wachsenden Armutsvierteln lebten.

Stattdessen schwebte dem sozialistischen Städteplaner Lúcio Costa und dem 2012 im Alter von fast 105 Jahren verstorbenen Architekten Oscar Niemeyer die Vision einer idealen Stadt vor, in der sich die Hoffnung der Menschen auf ein modernes Leben voller Wohlstand und Fortschritt verwirklichen sollte. In Anlehnung an die städtebaulichen Theorien von Le Corbusier entstand schließlich eine komplett am Reißbrett entworfene Stadt mit optimiertem Zusammenspiel der Funktionen Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Jede der insgesamt 90 „Superquadras“ stellt dabei nicht nur Wohnraum für rund 5.000 Bewohner zur Verfügung, sondern bietet mit eigenen Kindergärten, Schulen, Kliniken, Polizeistationen und Geschäften eine in sich geschlossene Lebenswelt.

Dass in einem solch egalitären Umfeld auch die andernorts so bedrückenden Klassenunterschiede verschwinden sollten, verstand sich von selbst; schnell setzte sich deshalb der vom französischen Schriftsteller André Malraux geprägte Begriff von Brasília als der „Hauptstadt der Hoffnung“ fest. Die Umsetzung dieser sozialen Utopien wird bis heute je nach Standpunkt entweder bewundert oder verachtet. Immerhin sind die Wohnungen in den Superquadras aber so begehrt, dass die Mieten deutlich über dem Durchschnitt des Landes liegen; die ursprüngliche Utopie, hochwertigen Wohnraum auch für die unteren Schichten der Bevölkerung zu schaffen, hat sich damit allerdings nicht erfüllt. Stattdessen werden die Wohnungen heute weitgehend durch die Mittelschicht bewohnt, während die ärmere Bevölkerung zumeist in Trabantensiedlungen außerhalb des Stadtkerns lebt.

Unabhängig von diesen städtebaulichen Idealen ist es vor allem die plastisch monumentale Architektur von Oscar Niemeyer, die das Bild Brasílias bis heute prägt. Neben den siebengeschossigen Wohnblöcken mit ihren mächtigen Pilotis, die den Beton wie schwerelos über der Erde schweben lassen, gilt das Interesse dabei vor allem den zahlreichen Repräsentations- und Zweckbauten im Zentrum der Stadt. Zu den beeindruckendsten Entwürfen zählen dabei das  Außenministerium („Palácio do Itamaraty“) mit dem davor liegenden Wasserbecken und seinen eleganten Säulen, der Präsidentenpalast („Palacáio do Planalto“) mit seinen sichelförmigen Stelzen sowie das „Congresso Nacional“ mit seinem flachen Sockelbau und den beiden schlank aufragenden Hochhausscheiben. Als weitere architektonische Ikone folgte 1970 nach 15 Jahren Bauzeit die berühmte „Catedral Metropolitana“ mit ihrer gewaltigen, aber dennoch grazilen Krone aus 16 Betonsäulen.

Austragungsort für die Fußball-WM

Aktuell steht für die Menschen vor Ort allerdings vor allem das neu errichtete Nationalstadion im Blickpunkt des Interesses. Ab Mitte Juni sollen hier erstmals in der Geschichte von Brasília Fußball-WM-Spiele ausgetragen werden. Die architektonische Planung für die hochmoderne High-Tech-Arena stammt in weiten Teilen vom Hamburger Architekturbüro von Gerkan Marg und Partner sowie dem Stuttgarter Ingenieurbüro schlaich bergermann und partner. In enger Auseinandersetzung mit dem städtebaulichen Umfeld entstand eine architekturhistorisch angemessene Lösung für die umgebende Esplanade des Stadions mit dem charakteristischen „Stützenwald“ und dem darauf ruhenden Seilnetz-Hängedach. Die Bühne steht also bereit, wenn am 15. Juni um 13 Uhr Ortszeit die Begegnung Schweiz gegen Ecuador angepfiffen, und die „Stadt der Hoffnung“ dann endgültig auch zur „WM-Stadt“ wird.

© Text: Robert Uhde

Nächstes Projekt