“Diaolou. Die Wachtürme von Kaiping”

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  1. Architekturjournalismus

Katalogtext zur Ausstellung “Diaolou. Die Wachtürme von Kaiping” von Sabine Bungert und Stefan Dolfen, 24.05. – 01.09.2018 im Wissenschaftspark Gelsenkirchen

“DIAOLOU – DIE WACHTÜRME VON KAIPING”

In der südchinesischen Provinz Guangdong stehen hunderte Wohn- und Wachtürme. Die eigentümlichen Bauten wurden in der Zeit zwischen 1850 und 1930 errichtet, sie zeugen von der Emigration sowie der Rückkehr der Übersee-Chinesen aus der Region seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Die meisten der Türme wurden während der Kulturrevolution zerstört oder sie verwahrlosten mit der Zeit. Dennoch sind immerhin rund 3.000 von ihnen erhalten geblieben, davon 1.833 in der Region Kaiping. Einige davon stehen aufgrund ihrer einzigartigen Architektur seit 2007 auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO. Mit einer Dokumentation der Diaolou von Kaiping setzen Sabine Bungert und Stefan Dolfen den zentralen Aspekt vorangegangener Arbeiten fort. Auch hier geht es um die sichtbaren Zeichen von Migration in der Architektur.

Die Ursprünge der Diaolou reichen zurück bis in die Ming Dynastie (1368-1644), als die Region Kaiping vermehrt geplündert und zudem massiv von Überschwemmungen bedroht war. Während dieser Zeit wurden erstmals mehrgeschossige befestigte Häuser errichtet, um sich besser gegen Überfälle und Überschwemmungen schützen zu können. Rund zweihundert Jahre später wurde dieser historische Architekturtypus wieder aufgegriffen: Zehntausende Chinesen sahen sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund von Bevölkerungswachstum, Hungersnöten und der blutigen Greuel des Taiping-Aufstandes zum Auswandern gezwungen. Viele von ihnen fanden eine Anstellung im nordamerikanischen Eisenbahnbau, in den Zinnminen Malaysias oder in anderen arbeitsintensiven Industrien in Übersee. Häufig wurden sie dort jedoch geächtet und verfolgt, so dass viele von ihnen schon bald in ihre alte Heimat zurückkehrten. Dort angekommen hatten sie es dann mit immer häufigeren Plünderungen sowie mit lokalen Herrschern zu tun, die sich willkürlich bei der Bevölkerung bedienten. Als architektonische Lösung für die wachsenden Probleme und im Rückgriff auf das historische Vorbild entstanden schließlich tausende neuer Diaolou, errichtet mit den Überweisungen der emigrierten Männer bzw. mit dem Geld der Heimkehrer.

Sabine Bungert und Stefan Dolfen haben während ihrer Reise 2017 rund 70 Ortschaften in der Region Kaiping besucht. Die dabei entstandenen Aufnahmen zeigen auf den ersten Blick den auffälligen Bruch der traditionellen chinesischen Wohnhäuser mit der patchworkartig zusammengestellten Architektur der neu errichteten Diaolou. Denn die weit gereisten Übersee-Chinesen hatten bei ihrer Heimkehr nicht nur die nötigen finanziellen Mittel, sondern auch eine Vielzahl an Eindrücken und Impressionen aus aller Welt mitgebracht, die sich auch architektonisch in den neuen Gebäuden widerspiegelten. Zeichnungen, Fotos oder Ansichtskarten aus dem Ausland dienten dabei als Vorbild für palastartig gestaltete Dachetagen, die neben Gotik-, Barock- und Rokoko-Stilelementen auch Einflüsse antiker griechischer, römischer oder islamischer Bauten zeigen. Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Einflüsse ist eine einzigartige Kombination aus chinesischer und westlicher Architektur entstanden, die heute als die früheste Adaption westlicher Einflüsse in ländlichen Gebieten Chinas angesehen wird.

Einige der Diaolou wurden von reichen Familien errichtet. Abzulesen ist dies am repräsentativen Charakter der Bauten und an den unterschiedlichen westlichen Stilelementen. Die unteren Etagen der Bauten blieben demgegenüber bewusst schmucklos. Sie sollten mit dicken Mauern, kleinen Fenstern und schweren Eisentoren räuberische Banden abhalten. Andere Diaolou wurden von mehreren Familien oder Bewohnern eines ganzen Dorfs erbaut und nur zu Zeiten von Bedrohung bewohnt. Daneben existieren aber auch ausschließlich zu Verteidigungszwecken konzipierte Wachtürme, die vor allem am Eingang der Dörfer oder an Flüssen zu finden sind.

Die Arbeiten von Sabine Bungert und Stefan Dolfen beschreiben den Verfall, aber auch die jahrzehntelangen Spuren der Nutzung der Diaolou. Der soziologischen Herangehensweise entspricht dabei ein dokumentarisch-forschender Blickwinkel, der bei aller Distanz das Besondere im Allgemeinen sichtbar werden lässt. Zu sehen sind Diaolou, die zwischenzeitlich als Schulen oder Krankenstationen dienten ebenso wie Bauten, die nach und nach verfallen und längst von Bäumen bewachsen sind. Bei einigen Diaolou deuten Satellitenschüsseln oder andere Details darauf hin, dass sie noch bewohnt sind. Oder es laufen Hühner im Hof herum, die zum Lebensunterhalt der Bewohner beitragen. Die meisten Diaolou stehen jedoch mittlerweile leer, weil viele der Besitzer in größere Städte oder wieder ins Ausland übersiedelten. Manche von ihnen schicken Geld nach Hause, verbunden mit der Hoffnung, dass die Daheimgebliebenen sich um die leerstehenden Gebäude kümmern. In den Fotografien ist dieser Zustand zwischen Aufschub und Verfall eindrücklich festgehalten. Die Bilder zeugen von der engen Verbindung der in den Diaolou aufgewachsen und später fortgegangenen Menschen zu ihrer Heimat; aber auch von dem Stolz der Besitzer, dass ihre Häuser den Wirren der Zeit bis heute standgehalten haben.

Eingebettet sind die verschiedenen Bauten in traditionelle, bis heute lebendige Dorfstrukturen. Auf den Fotografien von Sabine Bungert und Stefan Dolfen sind Wohnhäuser unterschiedlichen Datums zu sehen, die entsprechend dem Feng-Shui-Prinzip eng beieinander stehen und in denen sehr schmale Wege parallel zwischen den Häuserblöcken hindurch führen. Direkt vor diesen Häuserreihen erstreckt sich häufig ein großer Platz, an dem die Bewohner beieinander sitzen oder die Ernte verarbeiten. Die angrenzende Wasserfläche wurde früher als Trinkwasserreservoir genutzt und dient heute der Fischzucht; oder es werden hier Enten und Gänse gehalten. Ein paar Meter weiter außerhalb der Dörfer schließen sich die Felder für Reis und Gemüse und Weideflächen für das Vieh an. All das wirkt, als hätte sich hier nie etwas verändert. Doch dieser erste Eindruck täuscht. Denn zwischen all diesen Jahrhunderte alten Strukturen hat sich die „neue Zeit“ ihren Weg gebahnt; durch Motorroller und Verkehrsschilder ebenso wie durch Reklametafeln oder modisch-bunte Kleidungsstücke, die auf einer Wäscheleine trocknen. Oder durch karge Basketballfelder, die auf fast schon surreale Weise so manche Freifläche zwischen den unterschiedlichen Bauten besetzen.

Im Zusammenspiel der verschiedenen Ansichten entsteht ein Kaleidoskop unterschiedlichster Einflüsse und Epochen. Sichtbar wird, wie sich der Stilfundus der alten chinesischen Gesellschaft mit Einflüssen anderer Kulturen und mit Elementen der Gegenwart verbindet. Zugleich sind die gezeigten Diaolou aber auch Zeugen einer langen Periode von sozialen Missständen, die bis tief ins Mittelalter zurückreichen. Und sie dokumentieren die Historie von Kaiping als bedeutender Auswandererregion: Wer sich hier umhört, der wird kaum jemanden treffen, der keine Verwandten im Ausland hätte. Als Resultat dieser wechselvollen Geschichte gehört die „Emigration City“ Kaiping heute zu den reicheren Städten in der Region. Der vielfältige Austausch von Ausgewanderten, Zurückgekehrten und Daheimgebliebenen hat also letztlich dazu beigetragen, den Standort zu einer modernen Zivilisation mit vergleichsweise hohem Wohlstand zu entwickeln.

© Text: Robert Uhde
© Foto: Sabine Bungert, Stefan Dolfen

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