Katalogtext “Arrival Cities”

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Kategorie

  1. Architekturjournalismus

Katalogtext zur Ausstellung “Arrival Cities” von Sabine Bungert und Stefan Dolfen, 17.04. – 13.05.2016 im Forum für Kunst & Architektur, Essen

HONGKONG. ISTANBUL. ANKUNFT.

Hongkong. Istanbul. Dazwischen liegen Welten. Und rund 8.000 Kilometer. Doch trotz der offensichtlichen kulturellen und historischen Unterschiede gibt es auch eine bedeutende Parallele zwischen beiden Metropolen. Denn als rasant wachsende „Ankunftsstädte“ sind sowohl Hongkong als auch Istanbul seit Jahrzehnten Orte der Zuflucht für Millionen von Landarbeitern, die sich hier eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien erhoffen. In Hongkong hat diese Entwicklung dazu geführt, dass sich die Einwohnerzahl seit den 1920er-Jahren von 700.000 auf etwa sieben Millionen verzehnfacht hat. In Istanbul stieg die Zahl im gleichen Zeitraum sogar um das zwanzigfache, nämlich von 700.000 bis auf über 14 Millionen. Zum Vergleich: Die Einwohnerzahl Berlins ist seit den 1920er-Jahren von vier Millionen auf etwa 3,5 Millionen gesunken!

Im Laufe der Zeit haben sich die vielfachen Migrationsbewegungen fest in die Architektur und in die Strukturen des öffentlichen Raumes beider Städte eingeschrieben. Die Fotografien von Sabine Bungert und Stefan Dolfen greifen die vielfachen Zeichen dieses tiefgreifenden Transformationsprozesses auf und verdichten sie zu großformatigen urbanen Kulissen, die den Alltag, die Hoffnungen, aber auch das Scheitern der Menschen sichtbar werden lassen. Der soziologischen Herangehensweise entspricht dabei ein dokumentarisch-forschender Blickwinkel, der trotz aller Distanz Raum lässt, um individuelle Lebenslinien zu imaginieren: Die Geschichte eines ehemaligen Fabrikarbeiters, der irgendwann genug Geld gespart hat, um einen eigenen Laden zu eröffnen, ist in den dargestellten Bildwelten ebenso zu erahnen wie die einer arbeitslosen Textilarbeiterin, deren Sohn nach seinem Studium in die Mittelschicht aufgestiegen ist.

In der Summe der gezeigten Details und den dahinter vermuteten Biografien entsteht ein Geflecht, das exemplarisch den jeweils spezifischen Puls beider Städte aufzeigt; und das gleichzeitig auch wichtige Hinweise darauf bietet, wie und mit welchen politischen und gesellschaftlichen Strategien sich Zuwanderung erfolgreich gestalten lässt. Denn glaubt man den Prognosen der Migrationsforscher, dann wird sich die Migration aufgrund von Hunger, Krieg, Umweltzerstörung oder Klimawandel im Laufe des Jahrhunderts noch weiter beschleunigen.

Metropolen wie Hongkong oder Istanbul erscheinen vor diesem Szenario in gewisser Weise als Vorreiter; als urbane Labore, an denen sich schon heute wie unter einem Brennglas die Chancen, aber auch die Risiken einer weltweiten Entwicklung ablesen lassen. Die Einwohnerzahl beider Städte ist im Verlauf weniger Jahrzehnte rasant gewachsen, die Migration hat dabei aber ganz unterschiedliche architektonische Spuren hinterlassen: Hongkong erlebte vor allem Ende der 40er Jahre eine starke Zuwanderung durch Festlandchinesen, die nach Ausrufung der Volksrepublik China in die damalige britische Kronkolonie flüchteten. In der Stadt siedelten die Zuwanderer zunächst in ärmlichen Hütten aus Holz und Blech. Nach einem verheerenden Brand 1953 begann die Regierung jedoch, ein großes public-housing-Programm umzusetzen. Parallel dazu wurde ein umfangreiches Infrastrukturprogramm verabschiedet. Land wurde aufgeschüttet, Flüsse wurden begradigt und es entstanden riesige Hochhaus-Planstädte, die New Towns.

In Istanbul führte der Zustrom von Landflüchtlingen aus Anatolien seit den 1940er- und 1950er-Jahren stattdessen zum Bau von illegal errichteten Häusern und Siedlungen („Gecekondu“), die von der Regierung zumeist geduldet und seit 1966 in der Regel auch genehmigt wurden. Mit der Zeit wurden die einfachen Behausungen weiter ausgebaut und aufgestockt. Es entstanden großflächige Siedlungen mit mehrgeschossigen Häusern, die ihren Bewohnern trotz des bescheidenen Standards einen sozialen Aufstieg ermöglichten und die heute einen großen Teil der Stadtgebietes umfassen. Die Schere zwischen Armut und Reichtum bleibt aber gewaltig, zudem sorgt die zunehmende Immobilien- und Grundstücksspekulation für wachsende soziale Spannungen.

Die Arbeiten von Sabine Bungert und Stefan Dolfen zeigen die Tristesse, aber auch die Vitalität innerhalb der verschiedenen Zuwandererviertel in Hong Kong und Istanbul. Sie zeigen den dichten Berufsverkehr in riesigen Straßenschluchten und das Zusammenspiel von Leuchtreklamen ebenso wie das Aufeinandertreffen von traditionellem Leben und modernen westlichen Einflüssen; sie zeigen Menschen, die sich am Ufer des Bosporus begegnen, sie zeigen „gated communities“, sie zeigen aber auch die Folgen von maßloser Spekulation. Und sie lassen im Nebeneinander der unterschiedlichen Perspektiven erahnen, dass Zuwanderung entgegen vielfach geäußerter Befürchtungen nicht zwingend in hoffnungsloser Armut münden muss, sondern dass sie immer auch die Chance auf sozialen Aufstieg in sich birgt.

Die realistische Chance zur geglückten Integration der Zuwanderer besteht zumindest dann, wenn die Städte bereit sind, die neuen Bewohner nicht auszugrenzen oder in eine institutionalisierte Armut zu treiben, sondern stattdessen deren Potential zu erkennen und zum gemeinsamen Wohl aller einzubinden. „Denn ob Migration funktioniert oder nicht, hat wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun“, resümiert Doug Saunders in seinem Buch „Arrival City“. Drei Jahre lang hat der britisch-kanadische Autor und Journalist in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End, in den Pariser Banlieues, in den Favelas von Rio de Janeiro und in den Barrios in Los Angeles mit Menschen über ihre Lebenspläne und -wirklichkeiten gesprochen. Sein Fazit: „Die Ziele der Neuankömmlinge sind – egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen – die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist. Gelingt dieser Prozess, dann wird die Arrival City zur Geburtsstätte der neuen Mittelschicht, der stabilen Wirtschaft und des sozialen Friedens einer Stadt.“

© Text: Robert Uhde
© Foto: Sabine Bungert, Stefan Dolfen

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