“Neue alte Stadt”

Created in 2006

Kategorie

  1. Architekturjournalismus

Created for “Ideal Space”, Shanghai (translated by Cai Lin); Erstveröffentlichung in der DBZ.

In den 70er-Jahren galt Rob Krier als einer der wichtigsten Ideengeber der Postmoderne. Inzwischen verfolgt er eher das Konzept des “New Urbanism” und ist damit gemeinsam mit seinem Partner Christoph Kohl vor allem in den Niederlanden erfolgreich.

Potsdam, Stadtteil Kirchsteigfeld – wo bis zur Wende nichts als eine Wiese war, findet sich heute eines der größten Neubau-Quartiere Ostdeutschlands. Das 1997 nach einem Masterplan von Rob Krier und Christoph Kohl fertiggestellte Siedlungsprojekt besteht aus drei kleineren Vierteln, die um einen zentralen Marktplatz mit Büros, Geschäften und Kirche gruppiert sind. In Kombination mit einer Dienstleistungszone ist ein multifunktionaler Stadtteil für rund 7.500 Bewohner entstanden, der sämtliche Funktionen städtebaulichen Lebens und eine hochwertige Infrastruktur mit Schulen, Kindergärten und Sportplätzen bietet. Architektonisch wird das durch rund 20 internationale Planungsbüros realisierte Projekt durch eine individuelle Gestaltung und eine abwechslungsreiche Farbgebung geprägt, die nicht zuletzt die unterschiedlichen Funktionen lesbar macht.

Das als Modellbauvorhaben des Bundes konzipierte Projekt “Kirchsteigfeld” steht exemplarisch für Rob Kriers Thesen zur Stadtentwicklung, die er seit Mitte der 70er Jahre im Umfeld der “Lotus”-Gruppe um Massimo Scolari, Oswald M. Ungers, Aldo Rossi, Mario Botta und seinem Bruder Leon Krier entwickelt hat. Der europaweiten Krise in Architektur und Städtebau setzte die Gruppe seinerzeit einen geschichtsbewussten Rückgriff auf traditionelle Stadtgrundrisse und eine Betonung des städtebaulichen Raumes entgegen und schuf damit die Grundlagen zur späteren Entwicklung der städtebaulichen Postmoderne. Als einer der wichtigsten theoretischen Beiträge erschien dabei Rob Kriers Buch “Stadtraum in Theorie und Praxis” (1975), in dem er unter dem Stichwort “Stadtreparatur” am Beispiel des im Krieg großflächig zerstörten Stuttgart städtebauliche Alternativen zur Flächensanierung aufführt. Anknüpfend an eine Vielzahl historischer Vorbilder und archetypischer Grundmuster klassifizierte Krier dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Straßen-, Platz-, Haus- oder Fassadentypologien und rekurrierte damit programmatisch auf das Modell der sich erfolgreich über die Jahrhunderte entwickelten “europäischen Stadt”.

Einen ähnlich neorationalistischen Ansatz verfolgte der 1938 in Luxemburg geborene Architekt auch bei seinen Entwürfen für die aus 23 Häusern bestehende Wohnbebauung in der Berliner Ritterstraße (1977-80) oder für die im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA entstandene Wohnanlage in der Rauchstraße am südlichen Tiergartenrand (1985), bei der Krier für die städtebauliche Gesamtkonzeption von neun Stadtvillen verantwortlich zeichnete. Die unter anderem durch Aldo Rossi und Hans Hollein realisierten Häuser zitieren deutlich die Typologie der großbürgerlichen Villen und Botschaftsgebäude, die vor dem Kriege auf dem Arreal standen. Trotz dieser bewusst anti-modernistischen Arbeitsweise, die eher auf das städtebauliche Ganze als auf den einzelnen Baukörper abzielt, zeigen die Entwürfe Kriers in der Regel eine extrem große stilistische Vielfalt hinsichtlich der architektonischen Ausführung: Bei seiner Erweiterung der Alten- und Behinderten-Wohnanlage “Das Dorf” in Mülheim/Ruhr (1989 bis 1991) etwa entwickelte er eine farbenfrohe Collage unterschiedlich gestalteter Häuser oder zweigeschossiger Bauten, die sich um einen lang gestreckten Platz mit einer Kapelle gruppieren.

Nach seinem Studium in Luxemburg und München und seiner anschließenden Mitarbeit bei O. M. Ungers und Frei Otto war Krier zwischen 1976 und 1994 zunächst von Wien aus tätig. Seit 1993 führt er ein gemeinsames Büro mit seinem Partner Christoph Kohl in Berlin – mit großem Erfolg vor allem in den Niederlanden, wo beide inzwischen rund 20 verschiedene Projekte entwickelt haben. Den Anfang machte dabei die Masterplanung für ein Teilgebiet des in den letzten Jahren großflächig umstrukturierten Zentrums der Hauptstadt Den Haag: Als neue Verbindung zwischen Marktplatz und Hauptbahnhof wurde hier 2001 das unter anderem durch Rob Krier, Adolfo Natalini, Michael Graves und Sjoerd Soeters realisierte neue Verwaltungs- und Dienstleistungszentrum “De Resident” mit 400 Wohnungen, Geschäften und Büros fertiggestellt. Die als Stadtreparatur konzipierte “Stadt in der Stadt” bietet ein abwechslungsreich gestaltetes und deutlich an historischen Vorbildern orientiertes Netz aus Passagen, Straßen und kleinen Freiflächen, die sich rings um einen hufeisenförmigen Platz gruppieren. Die mit Mezzanin-Geschossen ausgebildeten Fassaden der den Platz umgebenden Blockbebauung zitieren dabei die Architektur alter Haager Herrenhäuser aus dem 19. Jahrhundert. Die geforderte hohe Dichte der neuen Bebauung wurde durch mehrere schlanke Hochhäuser realisiert, die direkt neben den in den 60er-Jahren errichteten Haager Ministeriumsgebäuden als eine Art moderne gotische Kathedralen aufsteigen.

Nur wenige hundert Meter weiter südlich von De Resident schließt sich das Gelände einer ehemaligen Druckerei an. Seit Anfang 2000 entsteht hier das nach einer Masterplanung von Krier · Kohl konzipierte Quartier “Rivierenbuurt”. Im Zentrum des Viertels steht ein sich trichterförmig zum Kanal hin öffnender Platz, der mit einem großzügigen Wasserbecken ein attraktives Ambiente für die angrenzende, drei- bis fünfgeschossige Wohnbebauung  bietet. Zusätzlich akzentuiert wird das Ensemble durch ein achtgeschossiges Wohnhochhaus, das einen Großteil der geforderten Wohneinheiten aufnimmt. Um eine stilistische Einheit zur Umgebung zu schaffen, besteht die Architektur ähnlich wie in De Resident aus traditionellen Baublöcken mit prägnantem Mezzaningeschoss sowie Geschäften im Erdgeschoss. Gemeinsam mit den Hochbauten im Zentrum soll dabei eine möglichst amerikanische Atmosphäre mit “Haager Färbung” entstehen.

Auf den ersten Blick wollen die Auffassungen von Rob Krier so gar nicht in unser Bild zeitgenössischen Bauens in den Niederlanden passen. Doch steht seine Haltung dort längst nicht isoliert: In den vergangenen Jahren sind zwischen Maastricht und Amsterdam eine Vielzahl neuer Stadtviertel entstanden, die ähnlich wie der amerikanische “New Urbanism” auf Typologien alter europäischer Vorbilder zurückgreifen und damit der zunehmenden Suburbanisierung entgegen treten wollen. Der inhaltliche Bezug zur städtebaulichen Postmoderne bleibt dabei sichtbar, doch statt die historischen Vorbilder durch eine zeitgemäße Architektursprache neu zu interpretieren, erscheint Geschichte dabei zunehmend eher als assoziative Folie. Wie stark sich diese “Neue Romantik” in den Niederlanden inzwischen etabliert hat, zeigt sich auch dadurch, dass inzwischen ganze Viertel die Form einer alten Festung erhalten. Eines der prägnantesten Beispiele bietet dabei die nach Plänen von Krier · Kohl neu entstandene und ebenfalls deutlich durch die Auffassungen des New Urbanism inspirierte Ortschaft Brandevoort bei Eindhoven: Rund um die bereits realisierte zentrale “Veste”, in der Läden und Gastronomie, öffentliche Einrichtungen und eine Schule konzentriert sind, sollen bis 2015 mehrere Dörfer entstehen, von denen jedes eine eigene städtebauliche Identität aufweisen soll. Das Zentrum besteht aus rund 1.500 Reihenhäusern, die umliegenden Dörfer zumeist aus Einzel- oder Doppelhäusern. Insgesamt sollen rund 6.000 neue Wohnungen errichtet werden. Die Fassadengestaltung basiert dabei durchgehend auf historischen Typologien Brabanter Backsteinarchitektur.

Eine weitere Zitadelle von Krier · Kohl entsteht gegenwärtig im Zentrum des durch Teun Koolhaas entwickelten Planungsgebietes Broekpolder bei Haarlem. Charakteristisch ist auch hier eine dichte Bebauung mit traditionellen Straßen- und Platzformen sowie eine rhythmische Variation der einzelnen Fassaden. Umgeben wird das Planungsgebiet von einer den Verlauf einer fiktiven Stadtmauer nachzeichnenden Wasseranlage. Für den Ortsrand von Haverleij bei ‘s-Hertogenbosch haben die Berliner Architekten nach einem Masterplan von Sjoerd Soeters außerdem eine “cittá ideale” mit 300 Reihenhäusern und 150 Appartements in vier Zwillingstürmen entworfen.

Als gezielte Gegenthese zu Globalisierung, zunehmender Mobilität und Internet rekurrieren Projekte wie Brandevoort, Broekpolder oder Haverlij ganz bewusst auf imaginierte städtebauliche Typologien aus der Vergangenheit. Bei deren architektonischer Umsetzung beharrt Rob Krier konsequent auf ein Höchstmaß an Schlichtheit: “Eine Tür ist eine Tür, ein Fenster ein Fenster”, erklärt er. “Normal tun, das ist eine der größten Aufgaben für Architekten. Meistens probieren sie es viel zu kompliziert. Bei Kindern ist das anders. Sie haben noch ihre Unschuld. Wenn sie ein Haus zeichnen, dann erfinden sie nichts Schwieriges. Bei manchen Projekten helfen sie mir sogar beim Entwerfen der Fassaden.”

Während der 60er- und 70er-Jahre bedeutete humanes Bauen vor allem mit der Schaffung offener und unhierarchischer, auf Gemeinschaft hin angelegter Strukturen. Bei Rob Krier verbindet sich der Begriff in erster Linie mit der idealisierten Collage einer traditionellen Stadt – mit pittoresken Stadthäusern, repräsentativen Landhäusern oder exklusiven Turmhäusern. Der Vorwurf des Traditionalismus ist dabei schnell zur Hand, und Krier selbst ist sich dessen durchaus bewusst: Auf die Frage nach der Wohnzufriedenheit in seinen sichtlich um “menschliches Maß” bemühten Projekten antwortet er offensiv, sie sei “für Architekturkritiker ekelhaft positiv” – eine provozierende Haltung, gewiss. Doch der Erfolg gibt ihm recht, denn mit seinen Arbeiten scheint er exakt die Bedürfnisse seiner Auftraggeber zu treffen. Eine große Zahl von Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens auf echten oder digitalen Autobahnen verbringen, sucht offensichtlich nach einem Zuhause, das vor allem Sicherheit und Geborgenheit bietet. “Cocooning” lautet mittlerweile das Credo, das auch durch die in den Niederlanden inzwischen zunehmend kommerzialisierten Wohnungsbauvereinigungen voller Enthusiasmus aufgegriffen wird. Und was eignete sich schon besser, ein nach dem 11/09 noch gestiegenes Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen, als die Zugehörigkeit zu einer geschlossenen Gemeinschaft im Inneren einer mittelalterlichen Festung?

Doch nicht nur bei unseren Nachbarn, auch in Deutschland ist in den letzten Jahren eine Diskussion über den New Urbanism entbrannt. Vor allem in Berlin, wo seit Jahren über den Wiederaufbau nichtexistenter historischer Strukturen oder Gebäude gestritten wird – etwa bei der Bauakademie, beim Potsdamer Platz, beim Adlon oder bei der Debatte um den Wiederaufbau des Schlosses, für das auch Krier · Kohl einen Entwurf vorgestellt haben. Pro und Contra liegen dabei offen auf dem Tisch: Hier die Sehnsucht nach repräsentativer Restauration idealisierter historischer Strukturen, dort der Anspruch auf kritische Auseinandersetzung mit 50 Jahren Geschichte als geteilte Stadt des Kalten Krieges. In die gleiche Richtung zielte auch die Diskussion um die Planungen zur Bebauung des “Johannisviertels” in der Oranienburger Straße, wo direkt neben dem Tacheles bis 2005 ein dichtes Quartier mit Büros, Wohnungen und Geschäften entstehen soll. Nachdem der städtebauliche Wettbewerb mit zehn internationalen Architekturbüros lange Zeit den beiden höchst konträren Beiträgen von Rob Krier und Daniel Libeskind die größten Chancen eingeräumt hatte, entschied sich die “Fundus”-Gruppe als Investor schließlich für die Entwürfe des amerikanischen Planer-Dous Duany Plater-Zyberk – ebenfalls Vertreter des New Urbanism.

Eine weitere nicht realisierte städtebauliche Planung innerhalb Berlins entwickelten Krier · Kohl für das “Viktoria Quartier”, dem ehemaligen Gelände der Schultheiss-Brauerei in Berlin-Kreuzberg. Nach dem Vorbild historischer Bürgerhäuser in London oder Amsterdam entwarfen sie hier mehrere, um zwei Höfe organisierte Stadthäuser, hinter denen individuell gestalteten Fassaden einen abgeschlossenen Lebensbereich mit eigenem Garten, flexibel aufteilbaren Wohngeschossen, Dachatelier und Dachterrasse bieten. Realisiert wurde schließlich eine Masterplanung von Frederick Fisher (Santa Monica), die 18 bestehende, neugotische Industriebauten aus der Zeit ab 1860 mit Neubauten verschiedener architektonischer Stilrichtungen ergänzt. Innerhalb dieses Rahmens haben Krier + Kohl die Atmosphäre der ehemaligen Brauerei als eindrucksvolle Kulisse für den Neubau eines Appartementhauses genutzt, das die wesentlichen Elemente des Loft Living – wie hohe Räume, große Fenster, offene und flexible Grundrisse – übernimmt und durch seine Fassadengestaltung die umgebende Industrie-Architektur aufgreift (1998 – 2001).

Mehr Erfolg haben Krier · Kohl wie gesagt in den Niederlanden – etwa mit ihrer Gesamtplanung der Landstraat Noord im Stadtzentrum von Bussum, wo es ebenfalls um den Wiederaufbau historischer Strukturen geht. Wo bis vor kurzem noch ein Parkplatz die kleinteilige Stadtstruktur unterbrach, wird nach der Masterplanung der Berliner Architekten seit Anfang 2001 der zugeschüttete historische Stadthafen neu errichtet. Das Wasser wird dabei mit einer pittoresken Wohnbebauung entlang der beiden Längsseiten umsäumt. Am kurzen Kopfende entsteht das neue Rathaus der Stadt Bussum, das sich sensibel in die vorhandenen Stadtkronen der Stadtsilhouette integriert. Als weiteres Element ist eine Fußgängerbrücke vorgesehen, die über das Wasser zu den ruhigeren, hinter dem Hafen gelegenen Vierteln hinüber führt.

Ganz andere Dimensionen bietet das derzeit größte niederländische Neubauprojekt “Leidsche Rijn” bei Utrecht. Seit Mitte 2000 entsteht hier das Quartier “Vleuterweide”. Der dazu durch Krier · Kohl entwickelte Teilplan 4 sieht einen am Wasser gelegenen städtischen Kern sowie drei fächerförmig angeordnete Dörfer vor. Das Zentrum bietet 15.000 m2 Einkaufsmöglichkeiten, ein Rathaus, einen Schul-Campus, rund 380 Wohnungen sowie 6.800 m2 Bürofläche. Das umliegende Wohngebiet “De Hoven” soll weitere 1423 Wohnungen sowie einen Wohnkomplex mit 72 Seniorenwohnungen bereit stellen.

Ebenfalls noch in der Realisierung befindet sich die Masterplanung für die Entwicklung des Hafenviertels “Batavia Haven” in Lelystad. Die seit den 1950er-Jahren entwickelte Hauptstadt der Provinz Flevoland wurde im letzten Jahrhundert in mehreren Abschnitten komplett “künstlich” aus dem Ijsselmeer gewonnen. Der Entwurf von Krier · Kohl lässt eine neue städtebauliche Schicht innerhalb dieses architektonischen Experimentierfeldes entstehen und sieht als Antwort auf die reizvolle Lage zwischen Strand-Boulevard und Stadtzentrum vor, das Hafenbecken als Bucht in der Küstenlinie zu errichten und so dessen Bedeutung als Brennpunkt des Küstenstreifens zu unterstreichen. Die Promenade und die dazugehörige Bebauung sollen in einem verbindenden Kreisbogen aufgenommen werden und so gemeinsam mit dem Hafen und der Straßenfront ein räumliches Ensemble formen. Eine einladende Geste, die am neuen Hafen Willkommen heißt.

© Text: Robert Uhde

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