“Offene Lernlandschaften”
Created for Faces of Interior – Kundenmagazin Pfleiderer in 2014
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Beitrag über moderne Schularchitektur in Faces of Interior, dem Kundenmagazin der Pfleiderer GmbH.
„Schulen sind in Wahrheit Kasernen“, behauptet etwas überspitzt der Architekt Peter Hübner. Und in der Tat: Wer sich die meisten Schulen hierzulande ansieht, der trifft wie hundert Jahren auf starr aneinandergereihte Klassenzimmer mit streng hierarchischer Sitzordnung, die im Zusammenspiel mit dem immer gleichen 45-Minuten-Takt vor allem an Ordnung und Disziplin appellieren. Die Lust am Lernen kann da schnell auf der Strecke bleiben. Aber wie sieht sie aus, die moderne Schule, an der lebendiges Lernen gelingen kann? Und welche Ansprüche muss dabei die Innenarchitektur erfüllen?
Der Raum ist neben dem Lehrer und den anderen Kindern der dritte Pädagoge – so lautet eine vielzitierte erziehungswissenschaftliche Erkenntnis, die ursprünglich aus der „Reggio-Pädagogik“ stammt und die die große Bedeutung von Architektur beim Lernen auf den Punkt bringt. Gut gestaltete Unterrichtsräume vermitteln den Kindern und Jugendlichen danach Sicherheit und Orientierung, regen aber auch zum Spielen, Erkunden und Experimentieren sowie zum Erproben von sozialen Rollen an.
Die Realität sieht zumeist deutlich nüchterner aus; selbst neuere Schulbauten sind häufig nur im Hinblick auf den klassischen Frontalunterricht konzipiert. Und das, obwohl die Schule durch zunehmenden Ganztagsunterricht immer mehr zum zentralen Lebensraum wird. In Skandinavien und insbesondere in Finnland hat man deshalb schon seit den 1990er-Jahren umgedacht. Immer mehr Schulen bieten hier neben herkömmlichen Klassenzimmern auch Lernlabore, Medienräume und Mensen, aber auch Ruheräume sowie Spiel- und Bewegungsflächen im Innen- und Außenraum. Das Resultat sind Schulen, an denen sich Kinder, Jugendliche und Pädagogen gerne aufhalten. Und wer will, der kann an dieser Stelle natürlich auch einen Zusammenhang mit den hervorragenden Ergebnissen Finnlands bei den ansonsten eher umstrittenen PISA-Studien vermuten.
Saunalahti-Schule in Espoo
Ein gutes Beispiel für einen solch modernen „Schulbau made in Suomi“ zeigt die im Herbst 2012 nach Plänen von Verstas Architects eröffnete Saunalahti-Gesamtschule in Espoo bei Helsinki. In dem organisch um einen großen Hof orientierten Neubau lernen 750 Kinder vom Krippenalter bis zum neunten Schuljahr gemeinsam unter einem Dach. Zentraler Mittelpunkt ist dabei eine gebäudehohe Aula, die gleichzeitig als Kantine und als bis in den Abend hinein öffentlich zugänglicher Veranstaltungsort mit eigener Bühne dient. Ebenso werden auch die verschiedenen Werkstätten und die Sporthalle nach Schulschluss und am Wochenende durch Erwachsenengruppen und örtliche Vereine genutzt. Darüber hinaus wurden eine Kita, eine öffentliche Bibliothek und ein Jugendklub integriert; statt der sonst üblichen Trennung zwischen Schule und Umfeld kann so ein lebendiger Dialog mit den Bewohnern des Quartiers stattfinden.
Eine weitere Besonderheit der Schule sind die unkonventionell gestalteten Klassenzimmer, in denen die Kinder gemeinsam an runden Tischen sitzen oder es sich auf Liegen bequem machen können. Offene Glastüren zu den Nachbarräumen ermöglichen zudem die Durchführung von klassenübergreifenden Workshops und fächerübergreifendem Projektunterricht. Außerdem haben die Planer unterschiedliche Freiraumangebote in den breiten Fluren geschaffen, in denen die Kinder je nach Bedarf sitzen, arbeiten oder lernen können. „In der Schule der Zukunft findet Lernen zunehmend außerhalb des traditionellen Klassenraumes statt“, erklärt Architekt Väinö Nikkilä. „Deshalb haben wir Wert darauf gelegt, dass jeder Innen- und Außenraum ein potenzieller Lernort ist.“ Die älteren Schüler haben gar keine festen Klassenzimmer mehr, sie lernen abwechselnd in Fachräumen oder speziell ausgestatteten Werkstätten.
Um den unterschiedlichen Nutzungsanforderungen gerecht zu werden, haben die Architekten bei der Planung des Gebäudes eng mit der Innenarchitektin Karola Sahi zusammengearbeitet, die unter anderem die verschiedenen Sitz- und Liegemöbel in den Klassenzimmern entwickelt hat. Besondere Herausforderungen stellte außerdem die Gestaltung der multifunktionalen Aula. Die großflächigen Sichtbetonwände in Verbindung mit Betonestrich-Böden, warmen Eichenholzdecken, backsteinrot verklinkerten Außenfassaden sowie der großen Glasfront zum angrenzenden Pausenhof schaffen ein angenehmes und gleichzeitig robustes Ambiente, das mühelos den unterschiedlichen Funktionen und Nutzergruppen gerecht wird. Kontrastiert werden die Naturmaterialien durch grüne Sessel sowie durch eine gelb gestaltete Wandfläche. In den Treppenhäusern sowie in den verschiedenen Gebäudeflügeln sorgen stattdessen blaue, grüne und orangefarbene Flächen für eine freundliche Atmosphäre und eine optimierte Orientierung.
Gymnasium Ergolding
In Deutschland lassen die hiesigen Curriculae derartig offene Raumkonzepte in der Regel erst gar nicht entstehen. Dennoch findet auch hierzulande nach und nach ein Umdenken statt. Eine gelungene Umsetzung zeigt etwa das 2013 nach Plänen von Behnisch Architekten und dem Architekturbüro Leinhäupl + Neuber in unmittelbarer Nähe zu einem Naturschutzgebiet fertiggestellte Gymnasium in Ergolding bei Landshut.
Das Büro Behnisch & Partner unter der Leitung von Günter Behnisch (1922-2010) – also das Vorgängerbüro der heutigen Behnisch Architekten mit seinem Sohn Stefan Behnisch als einem der Partner –, stand schon in den 1970er-Jahren für wegweisende Schulbauten, die mit enthierarchisierten Gruppen- und Gemeinschaftsräumen den Aufbruchsgeist und die Offenheit der damaligen Bildungsreform widerspiegelten. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt jetzt auch der Neubau in Ergolding. Ausgehend von dem Grundgedanken, Räume zu schaffen, in denen sich Lehrer und Schüler bis in die Nachmittagsstunden hinein gerne aufhalten und die sie beim Lernen und Lehren unterstützen, entwickelten die Planer eine offene und kommunikationsfördernde Lernlandschaft mit hoher Flexibilität, die sich perspektivisch jederzeit an veränderte pädagogische Ansätze anpassen lässt. Zentrales Element ist dabei ähnlich wie in Espoo ein lichtdurchflutetes Foyer mit direktem Zugang zum begrünten Pausenhof, das gleichzeitig auch als Veranstaltungsraum und als zentrale Erschließung dient und außerdem eine visuelle Verbindung zwischen den unterschiedlichen Galerieebenen ermöglicht.
Ähnlich multifunktional wie die Pausenhall wurden auch die davon abgehenden Flure angelegt. „Als breitere, vorgelagerte Bereiche dienen sie nicht nur der Erschließung, sondern stehen auch der Kommunikation zwischen Lehrern, Schülern und Eltern zur Verfügung“, so Robert Hösle, Partner im Münchener Büro von Behnisch Architekten. Darüber hinaus umfasst das durchdachte Konzept für die Innenraumgestaltung unterschiedliche Einzel- und Gruppenarbeitsplätze, die in Verbindung mit den vielfältig nutzbaren Unterrichtsräumen unterschiedlichste pädagogische Konzepte ermöglichen – von der Projektarbeit über den klassischen Frontalunterricht bis hin zur Gruppen- oder Einzelarbeit und zur Einzelförderung. Große Bedeutung hat dabei das als Leitsystem eingesetzte Farbkonzept, das rohe Sichtbetonflächen mit zum Teil leuchtend bunten Böden, Wänden und Decken kontrastiert; im Erdgeschoss mit seinen Computerräumen und den Bereichen für die Fächer Werken, Kunst und Musik dominiert die Farbe gelb, für das erste und zweite Obergeschoss mit den Klassenräumen und den Ganztagsklassen haben die Planer orange bzw. grün gewählt. Im dritten Obergeschoss mit seinen flexibel unterteilbaren Fachräumen für die Fächer Chemie, Physik und Biologie herrscht dagegen blau vor.
Um ihrer Rolle als Ganztagsschule gerecht zu werden, stehen im Gymnasium Ergolding neben Unterrichtsräumen auch eine Schulmensa, eine Bibliothek, Ruheräume für Schüler und Lehrer sowie lernorientierte Aufenthaltsräume zur Hausaufgabenbetreuung zur Verfügung. Komplettiert wird das Angebot durch eine Sporthalle, die auch durch örtliche Sportvereine genutzt werden kann. Darüber hinaus haben die Planer großen Wert auf eine gute Durchlüftung gelegt und außerdem ein Lichtlenksystem für ausreichend Tageslichteinfall integriert, um so angesichts der langen Schulalltage Müdigkeit und Konzentrationsschwäche entgegenzuwirken.
Amsterdam University College
Ähnliche Anforderungen wie der Schulbau stellt auch die Planung von Hochschulen. Auch hier geht es darum, eine offene und flexibel nutzbare Innenraumlandschaft zu schaffen, die Raum für unterschiedlichste Lernformen anbietet. Ein gutes Beispiel dafür zeigt der im Herbst 2012 eröffnete, vom Delfter Architekturbüro Mecanoo für rund 900 internationale Studenten geplante Neubau des Amsterdam University College. Ausgehend von seiner städtebaulichen Rolle als Auftakt zu einem Wissenschaftspark haben die Planer das Gebäude als viergeschossigen Solitär mit rostroter Corten-Stahl-Fassade und mit unregelmäßig zerklüfteter Dachlandschaft gestaltet.
Im Innenbereich erwartet die Studenten ein raffiniert verschachteltes, über freistehende Treppen miteinander verwobenes Raumgefüge, das mit durchlaufenden Galerien, offenen Lufträumen und transparenten Innenwandflächen innenhofartige Raumsituationen mit vielfältigsten Sichtbezügen ermöglicht. Neben flexibel nutzbaren Lehrräumen haben die Planer auch eine luftige Kantine, einen doppelgeschossigen Computersaal sowie eine unter dem Dach gelegene Bibliothek mit angrenzenden Leseplätzen integriert. Das Zusammenspiel der expressiven Dachschrägen mit Flächen aus Beton und warm gehaltenen Wand- und Deckenelementen aus Holz schafft dabei eine hierarchiefreie und ebenso inspirierende wie wohnliche Atmosphäre, die auf den ersten Blick Lust am Lernen und Kommunizieren weckt. Wichtige Farbakzente setzen die überwiegend in rot gehaltenen Sitzmöbel in den verschiedenen Bereichen. Zur Beleuchtung kommen moderne Leuchten in Tropfen- und Kugelform zum Einsatz. Insgesamt gelang so ein überzeigendes Innenraumkonzept mit gezielten Details und mit fließendem Wechsel von unterschiedlichsten Funktionen. Der Raum erscheint dabei nicht als leerer Container, in dem Lehrinhalte vermittelt werden, sondern als attraktives Angebot für unterschiedlichste Lernformen. Schließlich sind Heranwachsende und „Kinder keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden wollen“, wie schon vor fast einem halben Jahrtausend der französische Humanist François Rabelais wusste.
© Text: Robert Uhde