“Überraschende Durchblicke”

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  1. Architekturjournalismus

Wohngebäude von MVRDV in Amsterdam

Im Amsterdamer Stadtteil Geuzenveld wurde vor kurzem der Wohnblock „Parkrand“ fertiggestellt. Der Neubau der international renommierten Rotterdamer Architekten MVRDV schafft eine gelungene städtebauliche Belebung innerhalb der in die Jahre gekommenen Gartenstadt aus den 50er-Jahren.

Mit ihrem Seniorenwohnheim „WoZoCo“ (1994 – 1997) und dem Projekt „Silodam“ (1995 – 2002) haben MVRDV bereits zwei großformatige Wohnungsbauprojekte in Amsterdam realisiert. Jetzt haben sie dort den Wohnblock „Parkrand“ mit 223 Wohnungen fertiggestellt. Der Neubau setzt sich zusammen aus fünf hochwertig gestalteten, jeweils elfgeschossigen Hochhaustürmen, die durch einen gemeinsamen Sockel sowie durch frei tragende Verbindungen in den beiden oberen Geschossen zu einem organischen Ganzen verschmolzen sind. Die überraschende Anordnung der Baukörper schafft nicht nur eine optimierte Tageslichtnutzung, sondern ermöglicht auch vielfältige Durchblicke auf den angrenzenden Eendrachtspark – nicht nur für die Bewohner des „Parkrands“ selbst, sondern ganz bewusst auch für die Mieter der angrenzenden Wohnblöcke.

Den zwischen den einzelnen Hochhaustürmen entstandenen Raum nutzten die Architekten zur Schaffung von drei halbprivaten, durch den Designer und Innenarchitekten Richard Hutten in schrillem Design entworfenen Gemeinschaftsterrassen. Für die großzügig geöffneten Fassadenflächen nach außen verwendeten die Planer Paneele aus vorgefertigtem dunkelgrauen Beton. Die etwas geschlosseneren Fassaden in Richtung der Gemeinschaftsterrassen wurden kontrastierend mit weiß-glasierten Klinkern ausgebildet, die eine zusätzliche Verbesserung der Tageslichtnutzung ermöglichen. Komplettiert wird das Raumprogramm durch eine zur Hälfte im Erdreich gelegene Parkebene mit 80 Stellplätzen unterhalb des Erdgeschosses.

Gartenstadt aus den 50er-Jahren

Geuzenveld-Slotermeer ist einer von mehreren Stadtteilen im Amsterdamer Westen, die seit Beginn der 1950er-Jahre nach dem 1936 vorgestellten „Algemeen Uitbreidingsplan“ des Stadtplaners Cornelis van Eesteren neu erschlossen wurden. Wie in den benachbarten Quartieren Osdorp und Slotervaart lassen sich hier noch heute exemplarisch die städtebaulichen Ideale des Nachkriegs-Funktionalismus ablesen – so weit das Auge reicht, findet sich eine scheinbar endlose Anordnung parallel gestellter Blöcke innerhalb offener Grünräume mit konsequenter Trennung zwischen Wohnen, Arbeiten und Erholung. Inzwischen sind die damaligen Utopien längst breiter Skepsis gewichen. Begleitet durch massiven medialen Druck wird daher seit einigen Jahren verstärkt nach Strategien gesucht, um die Monotonie des Viertels wieder aufzubrechen.

Der auf Basis einer bereits 1998 vorgestellten städtebaulichen Planung für das Quartier neu errichtete Parkrand-Komplex von MVRDV ist Teil dieser Strategie. Der anstelle dreier abgebrochener Riegel aus den fünfziger Jahren entlang der Dokter H. Colijnstraat errichtete Komplex fungiert ganz bewusst als eine Art Schlüsselprojekt für die beabsichtigte Transformation und Verdichtung des Viertels. Neben 30 Mietwohnungen beherbergt er auch 193 Eigentumswohnungen. Nach dem Willen der verantwortlichen städtischen Wohnungsbaugesellschaft „Het Oosten Kristal“ sollen auf diese Weise ganz gezielt kaufkräftigere Bevölkerungsschichten – und mit der „Marke „MVRDV“ ganz nebenbei auch Touristen – angesprochen werden, um das Viertel nachhaltig zu beleben.

Variantenreiche Grundrisse

Die Erschließung sämtlicher Einheiten erfolgt über einen unauffälligen Hauptzugang zur Dokter H. Colijnstraat. Von hier aus erreichen die Bewohner und Besucher die verschiedenen Wohntürme. Dem hohen Anspruch des Projekts entspricht dort eine große Individualität bei den Grundrissen der einzelnen Appartements. Insgesamt wurden 23 verschiedene, durchgehend helle Wohnungstypen mit Größen zwischen 87 und 132 Quadratmetern realisiert. Die meisten davon besitzen einen frei auskragenden, unregelmäßig vor- und zurückspringenden Glasbalkon – ein Stilmittel, das die Architekten von MVRDV bereits bei ihrem nur einen Kilometer weiter gelegenen Seniorenwohnheim „WoZoCo“ eingesetzt hatten.

Noch mehr Individualität und Komfort bieten die großzügig geschnittenen Maisonette-Wohnungen in den beiden Obergeschossen des Gebäudes, die durch luftige Brücken miteinander verbunden werden. Die über eine Länge von 40,5 Metern frei tragenden Wohnbereiche wurden als zweigeschossige, 6,75 Meter hohe Stahlträgerkonstruktion errichtet.

Fließender Übergang zwischen innen und außen

So sehr sich der alles in allem 135 Meter lange, 34 Meter hohe und 34 Meter tiefe Baukörper einerseits von seiner Umgebung abhebt, so stark bleibt er andererseits den Idealen der Gartenstadt nach offenen und hellen Wohnungen mit engem Bezug zwischen innen und außen verbunden. Denn die ungewöhnliche Anordnung der einzelnen Baukörper ermöglichte im Vergleich zu einem kompakten Block die Schaffung von deutlich mehr Eckwohnungen mit höherem Fensteranteil. Die mit dieser Form möglich gewordenen, von fast allen Appartements leicht zugänglichen Gemeinschaftsterrassen schaffen außerdem einen fließenden Übergang zwischen den einzelnen Wohnungen und dem angrenzenden Park.

Um die einzelnen Terrassen möglichst lebendig und wohnlich zu gestalten, griff Richard Hutten bei der Auswahl des Interieurs auf unterschiedlichste Objekte zurück, um so die Anmutung eines riesigen Wohnzimmers, Esszimmers oder Spielzimmers zu schaffen. Neben den von den Architekten entworfenen überdimensionalen Blumentöpfen finden sich so zum Beispiel ein Kronleuchter, weiße, von innen her beleuchtete Elefantenskulpturen, ein skurriles Rutsch-Objekt oder Kunstgras als Bodenbelag. Die Gestaltung schafft eine betont künstliche, leicht surreale Atmosphäre, die den ungewöhnlichen Charakter des Gesamtkomplexes verstärkt. Alle drei Flächen sind von drei Meter hohen Glaswänden umgeben, um das Mobiliar vor Wind und Vandalismus zu schützen.

Kontrastreiche Detaillierung

Um die betont künstliche Atmosphäre weiter zu forcieren, verwendeten die Architekten im Bereich der Gemeinschaftsterrassen abweichend von den sonst für die „Innenfassaden“ eingesetzten maschinell glasierten Klinkern spezielle handglasierte Steine. Die Anordnung der Steine in einem durchgehenden Rautenmuster lässt die Fassade dabei je nach Blickwinkel und Lichteinfall wie eine überdimensionale Tapete erscheinen. Die für diesen Effekt verwendeten glasierten Steine wurden durch die ältesten Porzellan-Fabrik der Niederlande, die kleine friesische Steingut-Manufaktur „Koninklijke Tichelaar Makkum“, in Handarbeit gefertigt. Anders als bei herkömmlichen maschinell gefertigten Klinkern entstand eine unregelmäßige, tropfenartige Glasur mit individuellen Reflexionen, die die Steine subtil von den übrigen Klinkern der Fassade abhebt.

Zwischen den glasierten Steinen finden sich die Kennzeichnungen der jeweiligen Wohnblöcke zur schnellen Orientierung innerhalb des Komplexes. Nach einem Entwurf des jungen Designer-Büros Thonik wurden dabei statt der Lettern A, B, C, D oder E die Lettern V, W, X, Y und Z in unterschiedlicher Typografie und Anordnung mit schwarz-glasierten Klinkern eingefügt. Aus nachvollziehbaren Gründen: Denn die letzten fünf Buchstaben des Alphabets lassen sich aufgrund ihrer horizontalen Linien deutlich einfacher mauern als die fünf ersten Buchstaben.

Die übrigen Mauerwerksflächen wurden überwiegend mit industriell gefertigten glasierten Klinkern ausgebildet. An Stellen, wo die einzelnen Wohntürme dicht aneinander stehen und im Bereich der frei tragenden Brücken wurden die Steine dabei auf den Kopf gestellt gemauert, so dass die Öffnungen im Stein nach außen sichtbar sind – nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern vor allem, um eine bessere Akustik zu ermöglichen, wie die Architekten betonen. Unterhalb der 28 Meter hoch gelegenen, freitragenden Obergeschosse kam aus Gewichtsgründen alternativ ein Verputzsystem mit Gipsfaserplatten zum Einsatz. Denn kopfüber in luftiger Höhe wären die Klinker zu schwer gewesen. Die Architekten haben aus den verschiedenen Sachzwängen eine Tugend gemacht und ein differenziertes Fassadenbild mit unterschiedlichen Materialien geschaffen. Als bewusstes Gegenbild zur städtebaulichen Monotonie in der Umgebung.

© Text + Foto: Robert Uhde

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